Zyklische Struktur des Rig Veda

Der Kreis als Spiegel des Bewusstseins


Bernd Zeiger

17. September 2025



Einleitung:

Der Kreis ist der Prototyp aller sich wiederholenden Phänomene in Raum und Zeit. Makroskopisch spiegelt er den Rhythmus der Gestirne, den Wechsel der Jahreszeiten, den Atem, den Herzschlag, den Zyklus von Tag und Nacht und den Wechsel der drei Haupt-Bewusstseinszustände (Wachen, Schlafen und Träumen) und mikroskopisch die innere periodische Dynamik der Moleküle, Atome und Elementarteilchen, die für den Aufbau und das Verhalten der Materie verantwortlich ist. Oft ist die zugrunde liegende Kreisform des Geschehens nicht leicht zu erkennen und erschließt sich erst durch eine gründliche Analyse. Dazu haben Wissenschaft und Technik hochempfindliche Methoden der Schwingungsanalyse entwickelt, die von großer Bedeutung sind bei der Diagnose und Wartung aller Abläufe in Industrie, Wirtschaft, Gesellschaft und der individuellen Gesundheit.

Besonders erstrebenswert wäre deshalb eine wirkungsvolle Schwingungslehre zur Sicherung der Effektivität von Wahrnehmung und Erkenntnis, denn diese bestimmen letztlich das menschliche Denken und Handeln sowie die gesamte sprachliche Kommunikation.

Dass der in Indien überlieferte Rig Veda dieses dringend gebrauchte Schwingungs-Wissen ist, lässt sich bereits unabhängig vom Inhalt aus seinem zahlenmäßigen Aufbau ableiten. Das folgt aus einer von Maharishi Mahesh Yogi in den 1970er Jahren begonnenen Analyse der traditionellen Struktur des Rig Veda, die ergab, dass darin Sprache und Zahl, Klang und Form völlig synchronisiert sind. Dabei zeigt sich, dass der Schlüssel zu einem integrierten, lebensrelevanten Verständnis des Rig Veda in einem 4. Hauptbewusstseinszustand liegt, der jedem durch Meditation zugänglich ist: in-sich-ruhendes, selbst-bezogenes Bewusstsein. Der Kreis wird dadurch ein Spiegel des Bewusstseins.


Kreisform des Rig Veda


Selbst-rückbezügliche Eigendynamik ist nach dem aktuellen Erkenntnisstand der modernen Wissenschaft das Kennzeichen der grundlegendsten Ebene von Natur und Schöpfung. Deshalb sind kreisförmige Strukturen in der mathematischen Naturwissenschaft allgegenwärtig.

Das muss auch für den Rig Veda gelten, da dieser sich selbst als klangliche Darstellung der Eigendynamik des Bewusstseins versteht. Da Bewusstsein der Wesenskern und Motor jeder Entwicklung ist, hat die Erforschung und Nutzung des Rig Veda eine zentrale kulturelle Bedeutung: Rig Veda ist Wissen (Veda), das bewegt (Rig).

Die traditionelle Anordnung des Rig Veda in zehn Mandala (Kreise) aus rhythmischen Texten (Sukta) weist in diese Richtung, insbesondere auch deshalb, weil Anfang und Ende die gleiche Zahl an Suktas haben.

Mandala 1 
– 191 Sūktas – 2006 Richas

Mandala 2 
– 43 Sūktas – 429 Richas
Mandala 3 
– 62 Sūktas – 617 Richas
Mandala 4 
– 58 Sūktas  – 589 Richas
Mandala 5 
– 87 Sūktas  – 727 Richas
Mandala 6 
– 75 Sūktas  – 765 Richas
Mandala 7
 – 104 Sūktas  – 841Richas
Mandala 8 
– 103 Sūktas  – 1716 Richas
Mandala 9 
– 114 Sūktas  – 1108 Richas

Mandala 10 
– 191 Sūktas  – 1754 Richas


Die Rolle der Mandalas 2 bis 9 ist auf den ersten Blick nicht klar. Zu erkennen ist ein Trend zunehmender Zahl von Suktas und Richas (rhythmischen Bausteinen der Suktas), wobei das Verhältnis Richa/Sukta zwischen 8 und 10,5 fluktuiert, mit Mandala 7 als Ausreißer nach oben.

Reines Zählen oder Kombinieren hilft allein nicht weiter, um die zyklische Gesamtstruktur des Rig Veda zu erkennen. Die Fluktuationen weisen jedoch auf eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit hin, die auch statistisches Verhalten mit einschließt, also Freiheit und Notwendigkeit integriert.


Der meditative Zugang: Abhava 


Die Methode, die zyklische Struktur des Rig Veda zugänglich zu machen, ist ein nicht eingreifender Beobachtungsvorgang d.h. das Schauen dessen, was unterhalb des wahrnehmbaren, veränderlichen  Oberflächengeschehens wirkt. Die Situation ist analog wie bei der Erforschung der Natur wo statistische Gesetzmäßigkeiten und kollektiv-kohärentes Verhalten zusammenwirken. In der Wissenschaft gibt es für die Analyse der transformativen Übergänge im Spannungsfeld von Freiheit und Notwendigkeit die unterschiedlichsten Bezeichnungen z. B. kinetische Betrachtung, Streu-Prozesse, Wechelwirkungs-Bild. Das was im Zwischenbereiche zwischen Sein und Werden mental zugänglich ist, sind folgende vier Schritte des Übergangs: 
  1. Pradhvaṁsa Deaktivierung:  Alles oberflächlich sichtbare löst sich auf. Das Bewusstsein zieht sich aus der Vielfalt zurück. 
  2. Atyanta Ruhe: In der Stille verschwinden Unterschiede. Nur der selbstbezogene Zustand des Seins bleibt bestehen. 
  3. Anyonya – Ruhe-volle Wachheit: Das Bewusstsein erkennt in der Stille seine eigene Struktur – die sich selbst organisierende Ordnung. 
  4. PrāgAktivierung: Aus der inneren Wachheit heraus erscheinen die äußeren Strukturen in neuem Licht -der Kreis schlisst sich. 

Als spontaner, natürlicher und automatischer geistiger Vorgang wird der vierstufige Ablauf Meditation genannt. Meditation ist aus dieser Perspektive ein nicht eingreifender Beobachtungsvorgang, der insgesamt aus 4 Schritten besteht: Deaktivierung(Pradhvaṁsa), Ruhe(Atyanta), Ruhe-volle Wachheit(Anyonya) und Aktivierung(Prag). Durch ihn erschließt sich - wie wir sehen werden - die Kreisstruktur des Rig Veda.

Meditation ist also nicht nur ein Entspannungsvorgang, sondern eine systematische Erkenntnismethode, die es erlaubt die Invarianten in allen Veränderungen zu erkennen. Diese Invarianten sind einerseits das, was unveränderlich bleibt, andererseits das, was sich verändert d.h was Veränderung erst möglich macht. Dieses transformative Verständnis von Meditation behandelt das 6. Kapitel der Bhagavad Gita: Meditation auf der Basis von Yoga.

Der meditative Zuggang zum Rig Veda führt insgesamt zu der überraschenden Erkenntnis, dass er sich-selbst erklärt, d.h. das, was im Rig Veda als Struktur zu sehen ist, sagt bereit alles darüber was der Rig Veda bedeutet. Maharishi Mahesh Yogi prägte dafür die Bezeichnung Apaurusheya Bhashya: der nicht vom Menschen gemachte Selbst-Kommentar.


Zahlen im Rig Veda


Die Nummerierung der Mandalas des Rig Veda von 1 bis 10 weist nicht nur auf eine sequentielle Entwicklung hin, sondern auch darauf, dass diese durch Dezimalzahlen dargestellt werden kann. Dezimalzahlen sind durch die Existenz der Zahl 0 in Verbindung mit dem Stellenwertsystem besonders geeignet, sequentielle Entwicklungen mit qualitativen Sprüngen abzubilden. Die Synergie von Stellenwertsystem mit der Null als vollem Zahlzeichen macht Dezimalzahlen zu einem perfekten Werkzeug, um kontinuierliche, quantitative Veränderungen präzise zu messen und gleichzeitig die diskreten, qualitativen Sprünge exakt zu definieren, die sich aus dieser Kontinuität ergeben. 

 Dezimalzahlen
Die Null allein, ohne Stellenwertsystem, wäre nur ein Symbol für „nichts“. Das Stellenwertsystem allein, ohne eine echte Null (wie z. B. im römischen Zahlensystem), wäre unflexibel und könnte weder „Nichts“ noch Bruchteile gut darstellen. Das Stellenwertsystem ist der Katalysator, der die volle Kraft der Null als Platzhalter und qualitative Grenze zur Entfaltung bringt. Durch das Stellenwertsystem ist die Null nicht einfach nur „nichts“, sondern hat zwei essenzielle Funktionen: 
  1. Platzhalter: Die Null sichert die Position der anderen Ziffern. Die Zahl 205 bedeutet 2 Hunderter, 0 Zehner, 5 Einer. Die Null sagt explizit: "Hier, an der Zehnerstelle, ist nichts." Ohne diese Null und das Stellenwertsystem wäre die Darstellung von „Leere“ oder einem neutralen Punkt unmöglich. 
  2. Repräsentation des qualitativen Sprungs (Nullpunkt): Die Null markiert einen absoluten Wendepunkt. Sie ist die Grenze zwischen Positiv und Negativ, zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein. Ein Prozess, der durch negative, neutrale und positive Zahlen dargestellt wird, hat an der Null einen fundamentalen qualitativen Sprung (z. B. von Verlust zu Gewinn, von Kälte zu Wärme, von Defizit zu Überschuss). 
Das Stellenwertsystem (Dezimalsystem) ist der eigentliche Grund, warum Dezimalzahlen so mächtig sind. Es ermöglicht: 
  1. Unendliche Granularität und beliebige Präzision: Jede noch so kleine Entwicklung kann durch weitere Nachkommastellen dargestellt werden (0.01, 0.001, 0.0001 usw.). Man kann sich einem kritischen Punkt (z. B. der 0) asymptotisch nähern und diesen Prozess exakt beschreiben. 
  2. Eindeutige Darstellung von Größenordnungen: Jede Stelle repräsentiert eine andere qualitative Stufe (Einer, Zehner, Hunderter oder Zehntel, Hundertstel, Tausendstel). Ein Übergang von 0.999 (fast 1) zu 1.000 ist ein kleiner quantitativer Schritt, aber ein großer qualitativer Sprung in der Größenordnung – man wechselt von der Welt der Zehntel in die Welt der Einer. 
  3. Darstellung kontinuierlicher Prozesse: Die Dezimaldarstellung erlaubt es, fließende Übergänge und allmähliche Anhäufungen (Quantität) darzustellen, die sich dann in einem neuen Zustand (Qualität) manifestieren. Beispiel Siedepunkt: Die Temperatur eines Wassers kann langsam von 98 °C auf 99.1 °C, 99.2 °C... 99.9 °C steigen (quantitative Veränderung). Der Übergang von 99.9 °C zu 100.0 °C markiert den qualitativen Sprung vom flüssigen in den gasförmigen Aggregatzustand. 
Die Dezimalzahl bildet sowohl die langsame Annäherung als auch den exakten Punkt des Umschlags perfekt ab.

Die Dezimalzahlen sind also zur Abbildung sequentieller Entwicklungen besonders gut geeignet, weil die Kombination aus Stellenwertsystem und der Null es erlaubt, alle vier Momente eines qualitativen Sprungs in einem einzigen, präzisen numerischen Format abzubilden: 

  1. Die quantitative Phase: Die stetige Zunahme oder Abnahme vor dem Sprung (z.B. 0.1, 0.2, 0.3 ... 0.9) 
  2. Der kritischen Punkt: Die Null in der Einerstelle der Bruchzahlen markiert das Ende der alten Qualität,
  3. Die exakte Schwelle, an der die Quantität in eine neue Qualität umschlägt; die 1.0 in der Einerstelle markiert den Beginn der neuen Phase (Ganzzahlen >1).
  4. Die neue quantitative Phase: Der Zustand nach dem Sprung (1.0, 1.1, 1.2, etc.).

Der am kritischen Punkt stattfindende qualitative Sprung von einer Zehnerposition zur nächsten erfolgt im Dezimalsystem immer in 8 Zwischenschritten, die präzise festgelegt sind

Das führt auf die Mandala-Sequenz:

1 - 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 - 10

d.h. die Mandala 2 bis 9 kennzeichnen auf exakte Weise den Übergang vom 1. zum  10. Mandala

Das ist eine rein logische Konsequenz der dezimalen Mandala-Struktur des Rig Veda. Was in Wirklichkeit in einem Schritt geschieht, kann durch die Regeln des dezimalen Stellenwertsystems als ein Prozess der schrittweisen Addition dargestellt werden. Das Stellenwertsystems in Aktion führt zu einen "Überlauf", denn die "Einer"-Kategorie ist mit 9 Einheiten als Höchstmenge "gefüllt". Die Einerstelle kann die 10 nicht mehr als einzelne Ziffer darstellen. Die Ziffer 9 wird auf 0 zurückgesetzt. Ein Übertrag (Carryover) entsteht. Dieser Übertrag wird zur nächsthöheren Stelle (Zehnerstelle) addiert. An der Zehnerstelle steht zuerst eine 0. dann ergibt 0 + 1 (vom Übertrag) 10. Der Übergang von 1 zu 10 ist also formal ein Überlauf mit Übertrag im Stellenwertsystem:
Eine quantitative Einheit verlässt ihre ursprüngliche qualitative Kategorie (Einer) und begründet eine Einheit in einer neuen, höheren qualitativen Kategorie (Zehner). Die 0 in der Einerstelle ist dabei das sichtbare Zeichen dafür, dass die alte Kategorie "geleert" wurde. Dieser sich ständig fortsetzende Vorgang der Entleerung (Nullifizierung oder Erfüllung) einer Ebene als Grundlage für die Entfaltung einer neuen Ebene von den Einern zu den Zehnern, zu den Hunderten, zu den Tausendern, ....  ist der Schlüssel zum Rig Veda. Der vedische Fachausdruck für diesen fundamentalen, allgegenwärtigen und unzerstörbaren "Kollaps-Vorgang"  ist Akshara.




Wird fortgesetzt