Vedanta, Kant und Künstliche Intelligenz

Zusammenfassung der Analyse des Logikers Gotthard Günther (1900 - 1984)

in Zitaten aus seinem Buch "Das Bewusstsein der Maschinen"; 
Agis Verlag, Baden-Baden; 1957 (1. Auflage), 1963 (2. Auflage)

Zitate (kursiv) ausgewählt von B. Zeiger (Mai 2024)

Aus dem Vorwort (1. Auflage):  Die Analysen und Betrachtungen sind die Ausarbeitung eines Vortrags, der im Wintersemester 1955/56 an der Universität Hamburg, im kybernetischen Arbeitskreis der Technischen Hochschule in Stuttgart und an einigen anderen Orten gehalten wurde. Der ursprüngliche Vortrag ist in fast unveränderter Form Teil 1 des Buches.


Zitate im Überblick:
1. Unterschied zwischen Transzendenz und Transzendental bei Gotthard Günther:
1.1 Das kybernetische Modell,
1.2 Tranzendente Singularitäten,
1.3 Transzendentales Selbstbewusstsein.
2. Gotthard Günther´s Einordnung grundlegender Bereiche von Wissenschaft und Leben in das kybernetische Modell:
2.1 Vedanta: Chance einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit,
2.2 Immanuel Kant´s Beitrag zur transzendentalen Wende,
2.3 Einordnung der Quantenmechanik in die 3-wertige Logik von G. Günther. 
2.4 Die Provokation einer neuen Utopie – der Schritt zur totalen Reflexion

 


1. Unterschied zwischen Transzendenz und Transzendental bei Gotthard Günther

Selbst in den Tageszeitungen und einigen auf Sensationsmache geschriebenen Büchern wird sie (die Kybernetik) unter dem populären Namen einer Theorie der  "mechanical brains" (Künstliche Intelligenz) teils neuigkeitslüstern, teils mit einem gewissen Schauder diskutiert. Das Aufsehen, das die kybernetischen Theorien, Techniken und industriellen Produkte erregt haben, ist vollauf berechtigt. Greifen dieselben doch in einer bisher nicht gewohnten Weise in unser menschliches Dasein ein.

1.1 Das kybernetische Modell 

Zu den unser klassisches Weltbild neuerdings infrage stellenden wissenschaftlichen Theorien und Disziplinen - mathematische Logik, Relativitätsphysik und Quantenmechanik – ist ganz kürzlich ein neuer Wissenschaftszweig getreten, der die traditionellen Formen und metaphysischen Intentionen unseres Denkens noch radikaler aufzulösen scheint, als das die oben genannten logischen und physikalischen Denkweisen bereits getan haben....Das neue Wissensgebiet, ist die Theorie der Kybernetik (Prinzipien der Steuerung und Regelung). Sie wurde weiteren Kreisen der Öffentlichkeit bekannt, als Norbert Wiener im Jahre 1948 sein Buch "Cybernetics" erscheinen ließ... wobei die Shannon´sche Informationstheorie, die generelle Kommunikationstheorie, die Theorie der sich selbst organisierenden Systeme und neu entstehende mathematische Disziplinen als Grundpfeiler .... einer Theorie des "mechanical brain" (Künstliche Intelligenz) diskutiert werden.

„Wir müssen uns darüber klar werden, daß die elektronischen Gehirne von heute wahrscheinlich erst das embryonale Stadium einer Entwicklung erreicht haben, in der die Technik – die bisher ausschließlich eine materielle Oberflächenerscheinung gewesen ist – zum ersten mal in die tieferen, nicht mehr direkt greifbaren Schichten menschlicher Seinsverhältnisse eindringt.“ Rolf Strehl, Die Roboter sind unter uns. Oldenburg 1952, S. 76.

„Nicht die Erfindung der Atombombe ist das entscheidende technische Ereignis unserer Epoche, sondern die Konstruktion der großen mathematischen Maschinen, die man, vielleicht mit einiger Übertreibung, gelegentlich auch Denkmaschinen genannt hat … Tiefer als bisher ist damit die Technik in unser soziales und geistiges Leben eingebrochen. Wir können durchaus von einer neuen Stufe der Technischen Welt oder der Technischen Zivilisation sprechen.“
Max Bense in seiner Einführung der deutschen Übersetzung von L. Couffignal, Les Machines à penser. Paris 1952

Was gegenwärtig auf kybernetischem Gebiet geschieht, stellt in seinen letzten Konsequenzen die Entwicklungen in den atomtheoretischen Naturwissenschaften bei weitem in den Schatten, wird doch ... die mehrtausendjährige und altehrwürdige Unterscheidung von Spiritualität und Materialität in der speziellen uns überlieferten klassischen Form in einer bisher nicht dagewesenen Weise in Frage gestellt. Denn, ganz gleichgültig wie man jenen urphänomenalen Gegensatz auch interpretiere – etwa als Subjekt und Objekt, als Sein und Denken, als Tod und Leben, usw. –, stets bleibe ein, heute exakt definierbarer, Bereich von Phänomenen übrig, der sich weder auf der physisch materiellen noch auf der subjektiv spirituellen Seite unterbringen lasse. Jener nicht einzuordnende Restbestand wird heute in der Kybernetik gewöhnlich mit dem Kennwort »Information« bezeichnet, worunter in solchen grundsätzlichen Erörterungen nicht nur das unmittelbare Faktum der Information, sondern auch der Kommunikationsprozeß, durch den dieselbe übermittelt wird, zu verstehen ist. 

"Information is information, not matter or energy." Norbert Wiener 1948

Andererseits darf aber ebensowenig angenommen werden, daß der Informations- resp. Kommunikationsprozeß in das Gebiet der geistigen Phänomene gehöre; daß es sich also in der Kybernetik darum handle, allmählich den gesamten Bestand der seelischen Daten des subjektiven und ichhaften Bewußtseins in der Konstruktion elektronischer Gehirne aufzusaugen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. So wie die Informationstheorie sich aufs schärfste gegen den reinen Objektbereich und gegen dessen Gesetzlichkeit abgrenzt, so zieht sie auf der anderen Seite einen ebenso unerbittlichen Trennungsstrich zwischen sich und dem völlig informations-transzendenten Subjekt. In anderen Worten: die Kybernetik macht erstens die metaphysische Annahme, daß es Objekte gibt. Alle Technik tut das qua Technik. Zweitens aber setzt sie die metaphysische Prämisse, daß Subjektivität und Selbstbewußtsein ebenfalls als existente Größen vorausgesetzt werden müssen, wenn kybernetische Theorien möglich sein sollen ... Es ist unmöglich, Information und den sie tragenden Kommunikationsprozeß mit ichhafter Innerlichkeit, also Subjektivität zu identifizieren. 

Information ist Information und nicht Geist oder Subjektivität.

1.2 Transzendente Singularitäten

Wir haben deshalb nach kybernetischer Auffassung mit drei transzendenten protometaphysischen Komponenten unserer phänomenalen Wirklichkeit zu rechnen:

1. dem gegenständlich transzendenten Objekt.
2. die Transzendenz der Informationskomponente. und
3. dem subjektiv introszendenten Selbstbewußtsein.

Mit dieser Trinität nicht ineinander überführbarer Begriffskomplexe werden aber letzte Grundvoraussetzungen unseres bisherigen Weltbildes erschüttert. ... Das zweiwertige Schema auf dem unsere ganze bisherige Tradition, die Struktur unserer Kultur, die Klassifikation unserer Wissenschaften und der volle Umfang der abendländischen Technik beruhen, ist im Begriff zusammenzubrechen.

Die Kybernetik erklärt, und mehr noch, hat bereits praktisch demonstriert, daß Kategorien wie Erinnerung, Vergessen, Spontaneität, Intelligenz usw. nicht unbedingt als Manifestationen von Geistigkeit und Spiritualität angesehen werden dürfen. Jedenfalls nicht so weit als dieselben im "mechanischen Modell" darstellbar und wiederholbar seien. Und ganz besonders gelte das von den mathematisch statistischen Gesetzen, die die Struktur der Information und des intelligenten Kommunikationsprozesses beherrschten. Information ist also nicht nur nicht Materie, resp. Energie. sie ist ebensowenig Geist oder Subjektivität.

Damit entsteht in der Kybernetik aber ein eigengesetzliches Zwischengebiet, das sich durch eine Negation scharf von dem rein Objektiven und nur Dinglichen, durch eine zweite Negation aber ebenso entschieden von dem absolut Subjektiven und Innerlichen abtrennt. Vielleicht darf man es als die wesentlichste Entdeckung der Kybernetik bezeichnen, empirisch technisch festgestellt zu haben, daß es grundsätzlich unmöglich ist, die transzendentale Struktur der Wirklichkeit vermittels zweier alternativer Realitätskomponenten zu beschreiben.

Die transzendentale Autonomie jener neuen Region aber gründet sich in der Erfahrung, daß die Kybernetik die Sicht auf eine dritte Transzendenz frei legt, nämlich die spezifische Transzendenz des Prozesses. Das ist so zu verstehen: die Reflexion kann nie ganz objektiviert werden, und das mechanische Gehirn kann nie ganz den Charakter eines Ichs annehmen. Andererseits aber besteht weder für den Objektivationsprozeß der Reflexion noch für den Subjektivationsprozeß des Mechanismus irgendeine endliche Grenze. Wenn nun aber der progressive Subjektivierungsprozeß eines mechanical brain, der immer geistähnlicher wird, und die Objektivsetzung eines Bewußtseins, das aus immer größeren Tiefen heraus konstruierbar wird, in einer inversen Bewegung unendlich aufeinander zulaufen können, ohne einander je zu treffen, dann enthüllen sie zwischen sich ein »mittleres Jenseits«. In anderen Worten: der Reflexionsprozeß, resp. die Information, verfügt über eine arteigene Transzendenz.

Eine Transzendenz besitzen aber heißt einen unerreichbaren Grund haben. 

Wir verfügen also jetzt über drei Gestalten eines solchen Unerreichbaren.
  • erstens die objektive Unerreichbarkeit des Ansichseins,
  • zweitens die subjektive Unerreichbarkeit der Innerlichkeit, wozu jetzt noch jene
  • dritte Unerreichbarkeit kommt, die uns lehrt, daß Subjekt und Objekt einander auch in der Mitte nicht vollkommen begegnen können. Sie laufen aufeinander zu, ohne sich je zu erreichen und in eine Identität zusammenzufließen. Gerade darin aber bestätigt sich die metaphysische Selbständigkeit des Reflexionsprozesses. Er steht unter einem unendlich fernen regulativen Prinzip, das weder der Objekt noch der Subjektseite angehört.

1.3 Transzendentales Selbstbewusstsein

Es ist methodisch von äußerster Wichtigkeit, sich daran zu erinnern, daß unser Zugang zu jener dritten Region der Realität nur durch eine Abtrennung der relevanten Phänomene aus der ursprünglichen Dimension der Subjektivität gewonnen worden ist. Das jetzt entstehende neue Weltbild revidiert also nur den Begriff des Subjekts und nicht den des Objekts. Wir müssen zugestehen, daß wir bisher unter der Idee der Subjektivität zwei heterogene protometaphysische Motive zusammengefaßt haben. Die Trennung dieser Motive wird zu einer neuen, dreiwertigen oder sogar generell mehrwertigen Metaphysik führen. Was aber von unendlichem Gewicht für unsere bisherige klassische Tradition des Denkens und ihr zukünftiges Schicksal sein wird, ist das beruhigende Faktum, daß durch diese neue Entwicklung die metaphysisch klassische Idee von Objekt und Objektivität unberührt und unangreifbar bleibt.

In anderen Worten: die klassische zweiwertige Logik bleibt intakt und beansprucht auch weiterhin volle Gültigkeit, soweit rein objektive Strukturen allein zur Diskussion stehen. Der Unterschied gegen früher ist nur der, daß diese kategorialen Formen im Rahmen der platonisch aristotelischen Tradition bis dato als zuständig für den totalen Umfang unseres Realitätsbewußtseins galten. Jetzt aber muß diese Zuständigkeit als auf den reinen und isolierten Objektbereich eingeschränkt betrachtet werden. Ihre Gültigkeit kann sich nicht mehr auf die ursprüngliche subjektive Sphäre erstrecken, weil die letztere ja im Sinne der kybernetischen Theorien in zwei scharf getrennte Bereiche, nämlich den des Information produzierenden Reflexionsprozesses und den der rein subjektiven, d. h. Introszendenten Innerlichkeit aufgeteilt ist.

Damit aber erhält das klassische Identitätsprinzip eine zwar völlig veränderte, aber dafür reichere und tiefere Gestalt. Wie wir wissen, hatte es ursprünglich die einfache Form, daß im Absoluten Objekt und Subjekt, resp. Sein und Denken, als miteinander identisch zusammenfallen. Daß also ein Drittes, als die metaphysische Symmetrie von Denken und Sein störend, bedingungslos ausgeschlossen war. Jetzt aber haben wir mit einem solchen kybernetisch interpretierten Dritten zu rechnen. Damit fällt die ursprüngliche metaphysische Identität fort. An ihre Stelle treten drei zweiwertige Identitätsprinzipien von relativer Gültigkeit, die wir als:

 Seinsidentität
Reflexionsidentität
Transzendentalidentität

bezeichnen wollen. Diese drei Termini sind in der folgenden Weise zu interpretieren.

Das kybernetische Schema liefert uns die drei Grundkomponenten:

Objekt    Reflexionsprozeß   Subjekt

 Auf Grund dieser Trinität sind nun drei Identitätsrelationen möglich.

Erstens die von »Objekt« und »Reflexionsprozeß«. Wir haben dieselbe Seinsidentitat genannt. Sie entspricht am allerehesten dem alten, absoluten Identitätsprinzip, allerdings mit der Reservation, daß in dieser Identitätssetzung ein Reflexionsrest als unbewältigt zurückbleibt. Dieser Überschuß wird durch die Chiffre »Subjekt« angezeigt.

Die zweite Identitätsrelation kann zwischen »Reflexionsprozeß« und »Subjekt« etabliert werden. Sie führt zum Begriff der Reflexionsidentitat. Auch hier bleibt ein Überschuß zurück, der
in der Gleichsetzung nicht mit aufgeht. Er wird diesmal durch die Chiffre »Objekt« indiziert.

Die dritte Identitätssetzung schließlich kann zwischen »Objekt« und »Subjekt« erfolgen. Durch sie kommen wir zur Konzeption der Transzendentalidentitat. Wie in den vorangehenden beiden Fällen ist auch diese Identitätssetzung nicht absolut im Sinne der klassischen Metaphysik. Denn auch jetzt bleibt ein unbewältigter Rest zurück. In dieser Situation ist es der weder als »Objekt« noch als »Subjekt« zu designierende Reflexionsprozeß.

Führt man nach kybernetischem Vorbild eine dritte protometaphysische bzw. transzendental logische Wirklichkeitskomponente ein, so zeigt es sich, daß wir jetzt
erstens in einer logisch genau angebbaren Form zwischen dinghafter Seinsidentität und nicht gegenständlicher Identität eines Subjekts mit sich selbst unterscheiden können.
Zweitens aber sind wir in der Lage, präzis estzustellen, worin formallogisch betrachtet der Unterschied zwischen dem Subjekt als Ich und dem Subjekt als Du besteht.

Unser eigenes Identitätsbewußtsein sagt uns nämlich nicht nur, daß in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen einem toten Ding und uns besteht. Es teilt uns überdies mit, daß wir auch nicht identisch mit anderen Ichs sind. Das bedeutet aber, daß für unsere Reflexion drei Identitätsdifferentiale existieren

1. das zwischen dem Ding und dem ich, das das eigene ist.

2.  das zwischen dem eigenen Ich und einem beliebigen anderen, das für uns immer ein Du ist.

Nun wissen wir aber auch mit der gleichen Evidenzkraft, mit der wir uns selbst von der Dingwelt 
distanzieren, daß das Du, obwohl es in unserer Dingwelt als eine objektive Größe auftritt, sich selbst ebenso von den Gegenständen und Ereignissen dieser Welt als personelle Identität absetzt, wie wir es tun. Es existiert also außer den beiden bisher angeführten noch ein

3. Identitätsdifferential. Nämlich das zwischen dem Du und den Objekten. Auf diese Weise ergibt sich eine ontologische Interpretation unserer drei Identitätsbegriffe:

Seinsidentität expliziert den Sinn, in dem ein bloßes Objekt, ein impersonelles Es, mit sich identisch ist. An dieser Identität ist nur die reine Objektkomponente und der mechanisierbare Prozeß beteiligt. Das Subjekt jedoch, oder die Innerlichkeit, ist in diesem Identitätsverhältnis nicht involviert. Reine Subjektivität spielt in dieser Situation die Rolle des ausgeschlossenen Dritten.

Unter Reflexionsidentität aber haben wir den eigentümlichen Charakter des Selbstbewußtseins, d. h. die Ichidentität in ihrem privatesten und innerlichsten Sinn, zu verstehen. Sie stellt das Subjekt dar, das in seiner eigenen Reflexion selbstbeschlossen ruht. An dieser Relation sind deshalb auch nur die mittlere Komponente des Reflexionsprozesses und die reine Subjektkomponente beteiligt. Das bloße Objekt, das dem Ich ganz unvermittelt gegenübersteht, ist als das Andere und Fremde an dieser Identität nicht beteiligt. Und so wie im ersten Fall der Seinsidentität das Subjekt als reine Innerlichkeit ausgeschlossen war, ist im Prinzip der sich selbst durchsichtigen Reflexionsidentität das Objekt als ein für die Reflexion Undurchdringliches ausgeschlossen; denn es ist im eminentesten Sinne Nicht-Ich.

Bleibt noch als Letztes: die Transzendentalidentität. Wir haben sie so genannt, weil in ihr eine Identitätsrelation zwischen den extremen Grenzbegriffen von Subjekt überhaupt und Objekt überhaupt hergestellt wird. D. h., es wird hier die reine auf sich selbst ezogene Innerlichkeit der Subjektivität dem existenten Objekt in der Welt gleichgesetzt. Eine solche Gleichsetzung aber liefert nichts anderes als das Bild des Ichs, das wir (für uns selber) nicht sind.

Transzendentalidentität also konstituiert das Du, wie es uns in der objektiven Wirklichkeit begegnet. Auf der einen Seite konrzedieren wir nämlich dem Du dieselbe reine Innerlichkeit, wie wir ihrer in uns selbst inne werden. Auf der anderen Seite wird uns das Du aber nicht als ein (von uns) erlebter Reflexionsprozeß, sondern als ein relativ zu unserem Bewußtsein transzendentes Objekt im Zusammenhang der Welt der Dinge erfahrbar. Damit aber ist jedes andere Ich, resp. Du, für uns die unmittelbare Identität von Objekt und Subjekt, während wir für uns selbst nur die Identität von Subjekt und Reflexionsprozeß sind.Im Du ist uns der Reflexionsprozeß nicht gegeben. Dort ist er – für unser Denken – eben deshalb ausgeschlossen, weil wir uns selbst mit diesem aktiven Vorgang des Reflektierens identifiziert haben. Denn Denken ist immer unser eigenes Denken. Das Du bleibt für ewig das gedachte Ich, weshalb es unmöglich ist, es mit dem Reflexionsprozeß gleichzusetzen.


2. Gotthard Günther´s Einordnung grundlegender Bereiche von Wissenschaft und Leben in das kybernetische Modell


2.1 Vedanta: Chance einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit


Seite 81 (2. Auflage)
Die Bewustseins und Geistesgeschichte des Menschen, in den letzten Jahrtausenden besitzt zwei sehr eigentümliche Eigenschaften: Erstens verläuft die Entwicklung in regional getrennten, scharf markierten und parallel verlaufenden Hochkulturen, von denen Indien, China, Griechenland und zuletzt Westeuropa Beispiele geben. Zweitens aber spielt sich die Entwicklung und Abklärung des Bewußtseins in jeder dieser Hochkulturen auf dem Boden eines ausgeprägten Dualismus von Seele und Welt ab. Was Indien anbetrifft, so brauch man nur auf das Sãmkhya-System und seinen unversöhnbaren Gegensatz von prakriti (Urmaterie) und purusha (Seele) hinzuweisen. Höchst bezeichnend ist, daß die Theorie des Yoga, dieser ureigensten Schöpfung Indiens, ihre philosophischen Grundlagen dem radikalen Dualismus des Sãmkhya entnimmt.

Seite 90 (2. Auflage)
Die Geistesgeschichte des sich in seinem Dasein orientierenden Menschen in allen Hochkulturen schwankt zwischen einer Zweiweltentheorie von Diesseits und Jenseits und einem ontologischen Monismus hin und her. Je subtiler das Denken wird, desto mehr verschlingen sich die beiden Motive in einer praktisch unendlichen Mannigfaltigkeit von vorläufigen Lösungen. Die ursprünglich klaren Konturen der metaphysischen Orientierung gehen verloren und das Ende ist geistige Anarchie und Direktionslosigkeit eines Denkens, das längst vergessen hat, wo es eigentlich hinwollte.

Ein Beispiel dafür ist (die Vedische Kultur) die zwischen der philosophische Theorie des Vedãnta, dem radikalen Monismus, die Advaita-Lehre eines Gaudapãda oder Shámkara, und dem klaren Pluralismus des Vishnuiten Madhva hin und her schwankt. Es erübrigt sich, auf unsere Gegenwart und das Chaos des zeitgenössischen Denkens hinzuweisen, das gerade in den originalsten philosophischen Konzeptionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem katastrophalen Verlust an Wissenschaftscharakter in der Philosophie geführt hat.


2.2 Immanuel Kant´s Beitrag zur transzendentalen Wende


Seite 76 (1. Auflage)
Aber schon der erste, sehr unzureichende, in der Kritik der reinen Vernunft unternommene Versuch, auf das reflektierende Bewußtsein selbst zu reflektieren, zeigte, daß die überlieferten Vorstellungen unzureichend waren. Das erste Resultat der Kantschen Untersuchungen war, daß die klassische Logik dieser Problematik gegenüber versagte, und das zweite demonstrierte, daß die klassische Metaphysik lediglich die Ontologie einer in sich ganz leeren Irreflexivität produzierte. Die spekulativen Nachfolger Kants arbeiteten in dieser Richtung fort, aber da sie am Prinzip der Zweiwertigkeit allen exakten Denkens festzuhalten versuchten, versagten alle ihre Versuche, eine zureichende Theorie der Reflexion zu entwickeln. Zwar begriffen sowohl Fichte wie Hegel und Schelling, daß die Reflexion nicht ein abstraktes Gegenphänomen gegenüber dem Sein ist, aber sie besaßen nicht die Mittel, die ihnen bereits geläufige Einsicht, daß Reflexion nicht ausschließlic eine subjektive Variante von klassischer Existenz ist, darzustellen. Erst mit einer dreiwertigen Logik ist es möglich, zu zeigen, daß der Reflexionsprozeß etwas ist, was nicht ausschließlich mit Subjektivität, Innerlichkeit und Ichhaftigkeit gekoppelt ist, sondern daß er ebenfalls als eine Variante von objektiver, physischer (meßbarer) Existenz auftreten muß, wenn geistiges Leben und intelligente Kommunikation von Ich zu Ich möglich sein soll.


Seite 38 (1. Auflage)
Wenn zwei verschiedene Iche die ihnen privat eigene Innerlichkeit nicht miteinander teilen und gemeinsam haben können, dann bleibt nur ein Weg zu einer ontologisch bindenden und objektiv verbindlichen Verständigung zwischen ihnen übrig. Nämlich, daß sie in gemeinsamer Handlung das Bild ihrer Subjektivität aus sich heraussetzen und im Objektiven technisch konstruieren. Denn nur in einem solchen Bemühen kann sich zeigen, was als reine Spiritualität auch dann noch innerlich privat und introszendent unerreichbar bleibt und was andererseits jener zweiten pseudo subjektiven Komponente angehört, die allgemein verbindlich von allen Ichen in gleicher Weise besessen wird und die deshalb in einem sehr tiefen Sinne öffentlich ist. Dabei darf in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß schon Kant in einer kleinen Schrift zwischen privater und öffentlicher Vernunft unterschieden hat.(Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1784).


Seite 101 (1. Auflage)
Wie schon Kant hervorhebt, können die Bedingungen aller möglichen Erfahrung niemals Gegenstand der Erfahrung sein. Jene Bedingungen aber reflektieren sich in einer ihr eigenes Wesen suchenden und auf ihre eigenen Ursprünge zurückgehenden Reflexion. Das naive, unmittelbare, sinnlich orientierte Bild, das wir von der objektiven Welt besitzen, enthüllt uns nicht das Wesen der Realität. Denn für letztere ist der Gegensatz Diesseits-Jenseits sinnlos. Wir müssen uns der Wirklichkeit mit Denkmethoden nähern, die die logischen Kategorien eines reflexionsfreien, isoliert objektiven (trans subjektiven) Ansichseins überschreiten.

2.3 Einordnung der Quantenmechanik in die 3-wertige Logik Gottard Günther´s


Seite 67 - 69
In der Quanten-Physik kommt es darauf an, am klassischen vorbei einen Weg zu jener tieferen Seinsschicht physischer Existenz zu finden, auf der sich jene uns bekannten Naturgesetze erst als sekundäre Realitätsformen aufbauen. Daß jene Seinsschicht existiert und daß ihre Gesetzlichkeit eine transklassische, nicht aristotelische Gestalt hat, das ist heute keine Frage mehr. In jener tieferen Schicht wird die Kausalität von der statistischen Wahrscheinlichkeit abgelöst und die starre, irreflexive Identität des klassischen Körpers durch heute uns noch sehr dunkle Funktionen ersetzt, die reflexiven, d. h. auf sich selbst bezogenen Charakter zu haben scheinen. Vgl. die logische Analyse, die C. F. v. Weizsäcker kürzlich hinsichtlich der Grundlagen der Quantenphysik durchgeführt hat (C. F. v.Weizsäcker, Komplementarität und Logik. Naturwissenschaften 42, Heft 19, S. 521–529 u. Heft 20, S. 545–555)

Akzeptiert man aber die These Heisenbergs, gemäß der eine scharfe Trennung der Welt in Subjekt und Objekt nicht mehr möglich« ist, dann muß auch jener Unterschied zwischen Denkgesetz und objektivem Sachgesetz verschwinden. Eine scharfe Trennung zwischen logischem Bewußtseinsgesetz und ontologischem Gegenstandsgesetz ist dann ebenfalls nicht mehr durchführbar. Folglich wird in dieser Situation das aristotelische Argument, daß man das bloße Ding niemals die Gesetze des Denkens lehren könne, weil dasselbe den Gesetzen der Sache folgen müsse, hinfällig. In dem neuen Bereich hat das Sein keine eigenen Gesetze mehr, die von denen des Denkens prinzipiell unterschieden werden könnten.

Diese These aber ist umkehrbar. Auch das Bewußtsein verfügt jetzt über keine spezifische Eigengesetzlichkeit mehr, die seine Existenz und Funktionsweise von der des Objekts trennte. Seine logischen Gesetze sind zugleich die des ontologischen Aufbaus des Gegenstandes. In anderen Worten: Es gibt eine Gestalt der Reflexion, die weder im Ich noch im Du lokalisiert ist, sondern die erst im Es, d. h. Im Gegenstand, auftritt.

Das Selbstbewußtsein, das sich bloß in der Subjektivität, also ausschließlich im Ich und im Du manifestiert, bleibt fragmentarisch. Es ist nicht total. Es bleibt relativ, weil es von einem nicht bewältigten Reflexionsrest abhängt. Einem Reflexionsrest, der sich innerhalb der Spannweite von Ich und Du nicht realisieren kann und der statt dessen das gegenständliche Objekt als Projektions und Realitätsbasis braucht.

2.4  Die Provokation einer neuen Utopie – der Schritt zur totalen Reflexion

Seite 123 (2. Auflage)
Was heute den Völkern der Erde eine gemeinsame Zukunft verspricht, ist der glückliche Umstand, daß diese Provokation jetzt überall erfahren wird. Sie fordert den Asiaten sowohl wie den Europäer oder den Amerikaner heraus, und sie tut das in jedem Zivilisationsbereich in der gleichen Weise, insofern als sie an jedem Ort den Mechanismus der menschlichen Existenz entlarvt und nirgends eine andere Wahl freigibt, als entweder sich selbst ganz dem Mechanismus auszuliefern und dann schon im plattesten ökonomischen (geschweige denn in einem tieferen) Sinn Bankrott zu machen – weil der nur auf mechanische Leistungen abgestellte Mensch überhaupt keinen Marktwert mehr haben wird – oder aber ein neues schöpferisches Bild von sich zu entwickeln, in dem er sich als so frei begreift, daß er die historische Notwendigkeit der Maschine furchtlos bejahen kann, weil er nie in Gefahr ist, von ihr verknechtet zu werden:

»Die Automation als erster Vorgang in der Geschichte der Technik verheißt die Entmechanisierung des Menschen.« (Sonnemann S. 179

Die beiden philosophischen Ideologien, die heute den Westen und den Osten entzweien, sind sich wenigstens in einem Punkte völlig einig. Beide stellen fest, daß das letzte Thema ihres Denkens die selbst reflexive Struktur des Wirklichen ist. ..... Vom Standpunkt des Logikers aus handelt es sich hier um zwei mögliche, einander ebenbürtige Beschreibungen, die sich nur deshalb zu widersprechen scheinen, weil unser endliches, zweiwertiges Bewußtsein auf Grund der ihm eigenen Struktur prinzipiell unfähig ist, eine totale, auf ein Ichzentrum bezogene Reflexionssituation in sich zu entwickeln, d. h. eine Bewußtseinslage zu produzieren, in der alle Denkmotive, deren ein erlebendes Subjekt fähig ist, sich in einem universalen Weltbild harmonisch und widerspruchslos vereinigen könnten.

Seite 71 (2. Auflage)
Die totale Reflexion ist sowohl ein Reflexions wie ein Seinszusammenhang. Das Subjekt eines solchen totalen Denkens und Aussagens kann nicht im System selbst gefunden werden.. Denn dieses hypothetische Subjekt kann weder das »Ich« noch das »Du« und schließlich auch nicht das objektive Sein (»Es«) selber sein, weil alle drei als bloße Inhalte dieses Aussage Systems erscheinen.

Damit aber ist eine Bewußtseinsstufe erreicht, die alle bisherige Weltreflexion als Ausdruck einer vergangenen Form der Selbstreflexion betrachtet, die jetzt zum (untergeordneten) Inhalt eines neuen Selbstreflektierens geworden ist. Das ist der Standpunkt, den die Kybernetik gegenüber dem ideologischen Streit zwischen Osten und Westen einnimmt. Die beiden Aussagenkomplexe, können jetzt nicht mehr als konkurrierende Aussagen über die Weltwirklichkeit genommen werden – wo die eine Seite recht und die andere Unrecht hat; sie erscheinen in der kybernetischen Theorie der sich selbst organisierenden Systeme als komplementäre Ausdrucksformen der Reflexionskapazität. Es ist unmöglich, daß beide Ausdrucksformen in einem System zugleich verwirklicht werden. Es ist aber genau so unmöglich, daß ein System seine Selbstbezogenheit in nur einer dieser komplementären Situationen erschöpfend darstellt.