Das komplette Indische Tagebuch. (1894 - 1896) von Wilhelm Hübbe-Schleiden zusammen mit allen Anmerkungen und der vollständigen Einleitung von Norbert Klatt ist als kostenfreier PDF-Download über den Norbert Klatt Verlag, Göttingen, 2009, erhältlich. ISBN 978-3-928312-25-7
von Norbert Klatt, Herausgeber und Verleger (2009)
( Von Dr. Norbert Klatt in der Einleitung erwähnte besondere Ereignisse und Beobachtungen wurden von der Redaktion durch Orginal-Zitate von Hübbe-Schleiden ergänzt.)
Wilhelm Hübbe- Schleiden - zu dem in der Publikation „Theosophie und Anthroposophie“ eine biographische Skizze geboten wird - trat im Oktober 1894 eine Reise nach Indien und Ceylon an. Frucht dieser Reise sind einige Veröffentlichungen, unter denen an erster Stelle die Arbeit „Indien und die Indier“ zu nennen ist. Hübbe-Schleiden verfaßte diese Darstellung als Mitglied der Hamburger Geographischen Gesellschaft. Sie behandelt, abgesehen von den abwegigen Parallelen zwischen Indien und Deutschland, nicht nur religiöse und geschichtliche, sondern auch wirtschaftliche Aspekte. Damit hebt sie sich von der meist philologisch und historisch ausgerichteten deutschen Indien-Literatur der damaligen Zeit merklich ab. Doch bereits vor der Reise spielte Indien, bedingt durch die Theosophie, eine wichtige Rolle in Hübbe-Schleidens Denken. Vor dem Hintergrund der Theosophie schrieb er mehrere Aufsätze zur indischen Religions- und Geistesgeschichte. Auch einige Buch-Publikationen zu Indien erschienen von ihm, so etwa 1891 die Abhandlung „Das Dasein als Lust, Leid und Liebe“.
Indisches Tagebuch und Reisebriefe
Neben der erwähnten Abhandlung „Indien und die Indier“ sind, angeregt von Clemens Driessen (1857-1941), mehrere „Reisebriefe“, ebenfalls Frucht der Indien-Reise. Hübbe-Schleiden publizierte sie in der von ihm begründeten und viel gelesenen Zeitschrift „Sphinx“. Sie waren von vorne herein für die Öffentlichkeit bestimmt. Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren jedoch seine „indischen Tagebücher“, die erst 1992 aus Privatbesitz in die Göttinger Bibliothek gelangten. Der private Charakter der Tagebücher läßt sich zudem an formalen Kriterien festmachen. Im Gegensatz etwa zu den Ratschlägen zur Beschimpfung indischer Diener in Richard Garbes (1857-1927) „Indischen Reiseskizzen“ fehlen in Hübbe-Schleidens Tagebüchern Hinweise auf Sachverhalte, die er anderen öffentlich mitteilen möchte. Dennoch gibt es zwischen den Tagebüchern und den erwähnten Publikationen mehr oder weniger starke Überschneidungen. Während aber die „Reisebriefe“ nur die Zeit bis zum Aufenthalt in Darjiling im Februar 1895 widerspiegeln, gehen die Tagebücher zeitlich darüber hinaus. Zudem enthalten die Tagebücher Bemerkungen, die mit den Darstellungen in den Reisebriefen teils auffällig kontrastieren. Auch viele kritische Reflexionen sind in die Reisebriefe nicht eingegangen. Insbesondere gilt dies für Gedanken und Bemerkungen zu Hübbe-Schleidens eigener religiös-spirituellen Entwicklung. Subjektiv gefärbt, gewähren die Tagebücher einen tiefen Einblick nicht nur in die Gedankenwelt von Hübbe-Schleiden, sondern auch in seine Persönlichkeit. Der geschichtliche Wert der Tagebücher erschöpft sich nun keineswegs in biographischen Details. In historischer Sicht begegnen wir nämlich mit Hübbe-Schleiden zum Ende des 19. Jahrhunderts in Indien einem Deutschen, der ein umfangreiches Besichtigungsprogramm absolviert, eine ausgedehnte Bergtour durch den Himalaja unternimmt und unter Leitung eines Gurus sich nicht nur literarisch, sondern auch praktisch dem Yoga, einem Kernbereich der hinduistischen Spiritualität, zuwendet. Was war geschehen, daß gerade dies geschehen konnte?
Yoga weltweit
Vor dem Hintergrund des englischen Kolonialreiches tritt zum Ende des 19. Jahrhunderts mit Ramakrishna (1836-1886) und der Popularisierung der Bhagavad Gita nicht nur die Bhakti-Frömmigkeit, sondern mit dem Hinduismus auch der Yoga ins Zentrum eines weltweiten Interesses. Ablesen läßt sich dies an der zunehmenden Zahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema. Als markantes historisches Datum für den Beginn dieser Entwicklung wird oft der Auftritt Vivekanandas (1863-1902) beim „Weltparlament der Religionen“ angegeben, das vom 11. bis 27. September 1893 in Chicago tagte. Hier gelingt es Vivekananda, den Hinduismus auf gleicher Stufe mit den großen Weltreligionen stehend darzustellen. Wie nach einem Dammbruch ergießen sich seither indische Ideen in die westliche Welt. Nach seinem Auftritt in Chicago hielt Vivekananda zahlreiche Vorträge nicht nur zum Hinduismus, sondern auch zum Yoga. Möglichweise bot er sogar die ersten Yoga-Kurse auf amerikanischem Boden an. Ob aber zum Ende des 19. Jahrhunderts Amerikaner, Australier, Neuseeländer, weitere Deutsche und Europäer ähnlich intensiv wie Hübbe-Schleiden in Indien Yoga betrieben, läßt sich aufgrund der Quellenlage schwer entscheiden. Vermuten ließe sich dieses am ehestens noch für Theosophen, etwa für Franz Hartmann (1838-1912), der in Indien ebenfalls Kontakte zu Yogis hatte und einige Schriften zum Yoga verfaßte. Doch ein Erfahrungsbericht zum Yoga liegt von ihm nicht vor. Mit der Sitzverlegung der 1875 in New York gegründeten Theosophischen Gesellschaft, zunächst 1879 nach Bombay, dann 1882 nach Adyar, wachsen der Theosophie vermehrt indische Themen zu. Seit dieser Zeit findet man in der Zeitschrift „Theosophist“ auch immer wieder Abhandlungen und Aufsätze zum Yoga. Aus dem Kreis der Theosophen wurden zudem einige Bücher zum Thema in englischer Sprache publiziert. In welchem Umfang von den Theosophen Yoga auch praktiziert wurde und in welcher Form, ist jedoch nicht klar. Für indische Mitglieder, die durch einen Guru entsprechend geschult worden waren, mag dies unbesehen vorausgesetzt werden. Die Frage ist jedoch, wie europäische und amerikanische Mitglieder der Gesellschaft mit Yoga umgegangen sind.
Westliche Yoga-Lehrer gab es noch nicht und Inder, die in Europa und Amerika Yoga lehren konnten, waren zu dieser Zeit eher rar gesät. Westliche Theosophen konnten somit nicht auf Lehrer zurückgreifen, die sie in Stellungen und Techniken des Yoga einweisen konnten. Möglicherweise hat dieser Umstand im Westen auch auf die favorisierte Form des Yoga eingewirkt. Bedenkt man zudem, daß die Gründer der Theosophischen Gesellschaft, Helena Petrowna Blavatsky (1831- 1891) und Henry Steel Olcott (1832-1907) wie auch Franz Hartmann zum Buddhismus konvertierten, so läßt dies, wenn überhaupt, an eine Form des Yoga denken, die den westlichen Mitgliedern angepaßt war. Favorisiert wurde die Form des „Raja-Yoga“, während vor dem „Hatha-Yoga“ oft gewarnt wird. Die vermehrte Thematisierung des Yoga scheint unter Theosophen praktische Übungen angeregt zu haben. So erwähnt Clemens Driessen bereits 1889 die Beschäftigung mit indischer Atemtechnik unter Theosophen. Sicher ist, daß Yoga-Übungen zum festen Programm von Annie Besants (1847-1933) „Esoterischer Schule“ gehörten. Anders als Blavatsky und Olcott trat sie nicht zum Buddhismus, sondern 1893 zum Hinduismus über. In diesem Zusammenhang propagierte sie auch den Yoga. So ist etwa von Gustav Meyrink (1868-1932) bekannt, daß er, als er 1892 drei Monate zu Annie Besants „Esoterischer Schule“ gehörte, zeitweilig bis zu acht Stunden „Dauer-Yoga“ betrieben hat. Auch Hübbe-Schleiden übte sich schon vor seiner Reise nach Indien im Yoga. Doch fehlte ihm wie Meyrink offensichtlich die fachkundige Anleitung. Über Theosophen fand Yoga Eingang in weitere okkulte Gruppen. Nachweisen läßt sich dies etwa für Theodor Reuss (1855-1923). Reuss kam, wie Helmut Möller zeigt, durch Carl Kellners (1851-1905) kleine Broschüre - „Yoga: Eine Skizze über den psycho-physiologischen Teil der alten indischen Yogalehre. Dem 3. internationalen Congress für Psychologie gewidmet. (München: Kastner & Lossen, 1896) " - zum Yoga . Yoga-ähnliche Praktiken wurden bereits von Johann Baptist Kerning (1774-1851) und Alois Mailänder (1844-1910?) entwickelt. Clemens Driessen überliefert unter dem 26. September 1891 in seinem Tagebuch die Einschätzung Hübbe-Schleidens, daß Mailänders spirituelle Praxis dem „Patanyali-Yoga“ sehr ähnlich sei. Die Verwandtschaft zwischen Yoga und den Buchstabenübungen nach Kerning, die Hübbe-Schleiden auch in Indien praktizierte, ist freilich weniger nahe.
Motivation zur Indienreise
Während der Deutsche Franz Hartmann aus Amerika kommend in Indien die „Theosophie“ kennen lernen will, kommt Hübbe-Schleiden aus Deutschland nach Indien und Ceylon, um „Indien“ kennen zu lernen. Hübbe-Schleiden geht, wie wenige Wochen vor ihm der Österreicher Karl Eugen Neumann (1864-1912), gezielt nach Indien und Ceylon. Für beide ist der Subkontinent nicht eine Station auf einer Weltreise durch verschiedene Länder. Sie überschreiten im Osten auch nicht die Grenzen, die durch das englische Kolonialreich in Indien vorgegeben sind. Doch ihre Interessen sind verschieden. Neumann geht es um den Buddhismus, Hübbe-Schleiden um den Hinduismus, zumindest um Aspekte von ihm. Angeregt durch Paul Möwis erwägt Hübbe-Schleiden in Indien zwar auch den Besuch Tibets, doch zerschlug sich dieser Plan. Die in Indien und Ceylon weitverbreitete Theosophische Gesellschaft erleichterte Hübbe-Schleiden den Zugang zu den dortigen Menschen. Die Fülle indischer Personennamen in den Tagebüchern belegt dies eindrucksvoll. Berührungsängste mit Indern und dem indischen Leben scheint Hübbe-Schleiden nicht zu kennen.
Der romantisch verklärte Blick mag Hübbe-Schleiden bei den Elephanten-Ausritten oder in der heißen Mittagssonne am Ganges, wo er sich in die Welt der Märchen aus 1001 Nacht hinein träumt, sogar am innigsten mit dem indischen Leben verbunden sehen. Doch könnten diese Bilder täuschen. Briefe aus der Heimat holten ihn schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Zudem gerät er seitens seiner Familie für sein „Hinlungern“ in Indien massiv unter Rechtfertigungszwang. Mit Hübbe-Schleidens Indienreise tritt historisch etwas Neues hervor, denn da sein Aufenthalt auf dem Subkontinent nicht beruflich bedingt ist, wird mit ihm - historisch betrachtet - neben dem europäischen Missionar, Soldaten, Kolonialbeamten, Überseekaufmann, Forschungs- und Studienreisenden in Indien der moderne Typus des deutschen Indien-Pilgers faßbar. Greifbar wird mit ihm in Indien aber auch zum erstenmal ein deutscher Yoga-Schüler sowie ein deutscher Himalaja-Trekking-Tourist. Ist Hübbe-Schleiden auch nicht der erste Europäer - denn John Campbell Oman (1841-1911) trifft 1894 in Simla den Franzosen Charles de Russette, der dort das Leben eines Sadhus führt, und auch nicht der erste Deutsche - Margarethe Lenore Selenka (1860-1922) könnte ihm bezüglich des Yoga zuvorgekommen sein -, dann ist er doch gewiß einer der ersten Deutschen, die sich in Indien einem Guru anvertraut und sich dort im Yoga auf die hinduistische Spiritualität eingelassen haben. In historischer Perspektive ist Hübbe-Schleiden damit ein Vorläufer jener Deutschen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts und vermehrt nach dem Zweiten Weltkrieg im Yoga und dessen Abwandlungen sowie bei Gurus, teils in Indien selbst, Hilfe und spirituelle Anregung suchen und suchten. Gleiches gilt für die Trekkingtouren im Himalaja, die in jüngerer Zeit auch bei Deutschen immer beliebter werden.15. Februar: 1895
Die Hochgebirgsländer des Himalaya sind von jeher als Aufenthalt der Meister und Adepten angesehen. Jeder Hindu wendet sich deshalb zum Schlusse seiner Gebets-Ceremonie nach Norden. Insbesondere ist der Himalaya dem Schiwa heilig (dem Haupt aller Yogis). Er soll auf dem Berge Kailas, den die Tibetaner Kahantis nennen, wohnen und thronen.
Indisches Tagebuch Seite 12
Hübbe-Schleiden vertrat im ersten „Reisebrief“ die Auffassung, daß Reiseberichte langweiliger als Romane und Novellen seien. Dies hielt ihn freilich nicht davon ab, weitere „Briefe“ nachzureichen. Mag mit „langweilig“ vornehmlich die literarische Qualität eines Textes angesprochen sein, so wird ein solches Urteil Hübbe-Schleidens indischen Tagebüchern aus historischer Sicht gewiß nicht gerecht. Selbst für die anderthalb Jahre des Aufenthaltes in Indien enthalten sie, auch für die indische Kulturgeschichte, eine Vielzahl von Details zu Personen und Vorgängen, die Lücken füllen und Bekanntes bestätigen. Zudem besitzen die Tagebücher durchaus eine gewisse literarische Qualität. Trotz eingestreuter englischer Textpassagen und einer Vielzahl von Urdu-, Hindi- und Sanskrit-Wörtern, lassen sie sich flüssig lesen. Obwohl als Stilmittel nicht bewußt eingesetzt, wird mittels des Traumes, der Rückblicke in die Vergangenheit gewährt und Ausblicke auf die Zukunft eröffnet, der zeitliche und räumliche Rahmen der Tagebücher immer wieder durchbrochen. Durch die Mischung von faktischem Geschehen, Reflexionen, Bewertungen, Thesen, Träumen, Deutungen und Briefabschriften entsteht in den Tagebüchern eine eigenartige Schilderung, die nicht nur historisch Bedeutung, sondern auch literarisch ihre Reize hat. In den Deutungen der Träume erfährt der Leser bisher Unbekanntes aus der Vergangenheit Hübbe-Schleidens. Zudem wird die starke Verwurzelung seiner Familie in der Hamburger Gesellschaft deutlich. Auch auf seine Beziehung zu dem Dichter Franz Evers (1871-1947) und Fidus, dem berühmten Jugendstilkünstler Hugo Höppener (1868- 1948), fällt so manches Licht. Der tiefere Berührungspunkt zwischen Hübbe-Schleiden und Fidus, zwei unterschiedliche, sich aber ergänzende Persönlichkeiten, war wohl die leitende These, daß der Inhalt der Kunst esoterisch, die Form aber natürlich sein solle. Dieser Kunstauffassung gab Fidus einen exemplarischen Ausdruck im sogenannten „Lichtgebet“ eines nackten Jünglings. Auch die wenig günstigen Urteile, die Hübbe-Schleiden zur indischen Kunst fällt, mag die genannte Kunstauffassung erhellen, und wie wenig in der Kunst er den Indern überhaupt zutraut.
"Indien und die Inder" Seite 91
Die Anschauung der Hindus von der Art der göttlichen Erleuchtung der Verfasser der (heiligen) Schriften, den Rishis, ist dieselbe wie unser Begriff von »Offenbarung«, nur noch geistiger und nicht so sinnenfällig aufgefasst. Auch sind die Hindus logischer als unsere Theologen ; denn sie schliessen nicht die gleiche Möglichkeit solcher Erleuchtung für die Gegenwart aus. Warum sollte denn der göttliche Geist nicht heute noch ebenso wirksam sein wie vormals? Stirbt das Göttliche doch nicht, und die Evolution der Menschheit ist auch nicht zurückgegangen, sondern fortgeschritten. "Indien und die Inder" Seite 121 (Fussnote)
Die Konzentration auf dieses Ziel dokumentieren vor allem der Aufenthalt in Almora und in Uttarpârâ. Hübbe-Schleiden erwartet in Indien eine wesentliche Hilfe bei der Suche nach seinem „Meister“ und die „Einweihung“ in höhere Erkenntnisse. Andererseits liegen Äußerungen vor, die den Eindruck erwecken, als sei die „Suche nach dem Meister“ mittels Yoga eine Art Selbstexperiment zur exakten Beschreibung des „inneren Weges“. Erstaunlicherweise notierte bereits Clemens Driessen, der Hübbe-Schleiden in Dreieichenhain besuchte, unter dem 26. September 1891 den Eindruck in sein Tagebuch, daß auch die spirituelle Praxis von Alois Mailänder für Hübbe-Schleiden offenbar ein Experiment gewesen sei.
Neigungen und Träume
Zur damaligen Zeit ist die „Reise nach Indien“ als „Weg der Einweihung“ ein literarischer Topos. Dieser ist auch auf Hübbe-Schleiden als Indien-Pilger anwendbar. Hübbe-Schleiden sucht in Indien neben einem Guru vor allem seinen „Meister“, sein eigenes „höheres Bewußtsein“ oder „Ich“, den „Christus“ oder den „Gott in sich“. Ziel dieser Bestrebungen ist nicht der „Übermensch“, sondern der „Gottmensch“. Gegenüber früheren Jahren ist Hübbe-Schleiden nach seinem Selbstverständnis nicht mehr Okkultist, sondern zunehmend Mystiker, der Gott in der eigenen Seele sucht.
als selbstverständlich. Er war stets so sehr von der Gesetzlichkeit der Weltordnung überzeugt, dass er sich sagte, das, was Einer erreicht hat, muss ein anderer auch erreichen können; und als solche, die das Ziel erreicht, gelten ihm alle seine alten Weisen, die Rischis, sowie auch die Vorbilder eines Krischna, eines Buddha und Christus. Es zweifelt auch kein Hindu daran, dass es solche Hochentwickelte, Vollendete zu jeder Zeit, auch heutzutage auf der Erde wirklich gibt. Indien und die Inder", Seite 144
Da er den „Christus“ oder den „Gott in sich“ auch als seinen „Meister“ und sein eigentliches „Ich“ anspricht, drängte sich freilich oft der Gedanke auf, daß es sich bei all diesen Benennungen psychologisch um sein „Über-Ich“ handeln könnte, zumal auffällt, daß in den Träumen, neben anderen Autoritätspersonen, immer wieder sein Vater auftaucht, während die Mutter nicht erwähnt ist.Wie ernst es Hübbe-Schleiden mit der „Suche nach dem Meister“ ist, zeigt vor allem sein Kampf gegen die Sexualität, mit der er gelegentlich sogar Annie Besant in Angst und Schrecken versetzt. Wie ein indischer Sadhu trägt er ein „Langota“, das die geschlechtliche Erregung dämpfen soll. Mal verhüllt, mal unverhüllt ist in den Tagebüchern die Überwindung der Sexualität als Voraussetzung für die Begegnung mit dem „Meister“ ein immer wiederkehrendes Thema. Dadurch erhalten die Aufzeichnungen, zumal die Theosophie für Hübbe-Schleiden Religion ist, einen explizit religiösen Charakter. Indem Hübbe-Schleiden seine intimsten Gedanken dem Tagebuch anvertraut, gewährt er Einblicke in das Ringen nach religiös-spiritueller Erfahrung, wie es in dieser Form, wenn man Gustav Meyrink hinzunimmt, aus dem Umfeld der theosophischen Bewegung zur damaligen Zeit nur selten überliefert ist. Ohne sie literarisch der Gattung „Bekenntnis“ oder „Confession“ zuordnen zu wollen, enthalten die Tagebücher doch zahlreiche Elemente, die in diese Richtung weisen. deren Inhalt freilich oft dunkel bleibt - wie das mit dem Wort „Kollaps“ Bezeichnete - greifen, wie auch Hübbe-Schleidens Gedanken zur Wahl der Wiederverkörperung, in die Sphäre der Sexualität ein. Hübbe-Schleiden kann sich durchaus vorstellen, als „Frau“ wiedergeboren zu werden. Solche Bemerkungen könnten den Leser an Karl Heinrich Ulrichs (1825- 1895) erinnern, der zur Erklärung der männlichen Homosexualität die These von der weiblichen Seele in einem männlichen Körper aufstellte.
Neben philosophischen Reflexionen zur Entwicklung der Religionen befaßt sich ein großer Teil der Notizen in den Tagebüchern insbesondere mit der Theosophischen Gesellschaft. Überraschend mag sein, daß Hübbe-Schleiden der Gründerin der Gesellschaft, Helena Petrovna Blavatsky, keinen Funken Religiosität zubilligt, und Annie Besant jedes selbständige Urteil abspricht. Eher amüsant ist hingegen die Schilderung des Versuches, Olcott an die „Frau“ zu bringen. Größeres historisches Interesse könnten jedoch die Begegnungen mit Anagârika Dharmapala (1864-1933), dem Begründer der Maha Bodhi Society, auf sich ziehen. Hübbe-Schleiden nennt Dharmapala, in dessen Elternhaus in Colombo (Sri Lanka) er sogar einige Tage wohnte, häufig seinen „jungen Freund“, setzt sich aber auch kritisch mit dessen Bemühungen auseinander, den von Hindus genutzten Tempel in Bodh Gaya, der nach der Tradition den Ort der Erleuchtung Buddhas bezeichnet, für die Buddhisten zurückzugewinnen. In Ceylon erlebt Hübbe-Schleiden unmittelbar, wie Dharmapala, unterstützt von Don Baron Jayatiloka (1868-1944), sich für die Sache des Buddhismus einsetzt und dafür wirbt, daß Bodh Gaya wieder buddhistisch wird. Während Hübbe-Schleiden in Ceylon dem „Hinayana-Buddhismus“ begegnet, kommt er mit dem tibetischen Buddhismus in Darjiling in Berührung. Da sich seine Teilnahme an der „dritten Expedition“ von Paul Möwis nach Tibet zerschlug, blieb die Berührung mit dem tibetischen Buddhismus für ihn auf diesen Ort beschränkt. In Darjiling wohnte er in der „Villa Lhasa“, dem Wohnhaus des indischen Tibetologen Sarat Chandra Das (1849-1917), der von den Engländern als Erforscher Tibets gerühmt und von den Tibetern als Spion verdächtigt wurde. In diesem Haus traf er auch Lama Sherab Gyatsho, der sich ebenfalls als Erkunder Tibets einen Namen gemacht hat. Sprachschwie- rigkeiten67 wie auch ästhetische Vorbehalte den Tibetern gegenüber haben Hübbe-Schleiden jedoch daran gehindert, von ihm Informationen zum Lamaismus zu erhalten. Da in Darjiling jedoch Dausamdup fließend Englisch sprach, könnte er, neben ihm zugänglicher Literatur, eine Quelle für Hübbe-Schleidens Notizen zu dieser Form des Buddhismus gewesen sein. Doch wie in Sri Lanka dem „Hinayana-Buddhismus“ so verhält sich Hübbe-Schleiden auch dem tibetischen Bud- dhismus eher reserviert gegenüber. Im Gegensatz zum Österreicher Karl Eugen Neumann, der im Sommer 1894 Ceylon und Darjiling mit speziellen buddhistischen Interessen besucht, erleben wir Hübbe-Schleiden sowohl in Darjiling als auch in Ceylon, trotz der Bekanntschaft mit Dharmapala, eher als Touristen. Auch sein Interesse am Jainismus und der Religion der Parsen hält sich in Grenzen. Dies deutet freilich darauf hin, daß sein Interesse in Indien vorrangig einem anderen Gegenstand galt
12. Dezember 1894:
Wie Hübbe-Schleiden hielt sich ein Jahrzehnt zuvor auch Richard Garbe anderthalb Jahre in Indien auf. Über seine 1885 angetretene Reise hat er „Indische Reiseskizzen“ veröffentlicht. Sein Interesse sind vor allem Sanskrithandschriften, zu deren Studium er ein Jahr in Benares weilt. Das Wort „Yoga“ fällt, gegen die Erwartung, in den „Reiseskizzen“ kein einziges mal. Wie bei Paul Deussen (1845-1919), der im Herbst 1892 für ein halbes Jahr nach Indien aufbricht, so war auch das Interesse von Richard Garbe fachlich bedingt, d.h. von einem bestimmten Forschungszweck vorgegeben. Dennoch bieten die Veröffentlichungen der genannten Indienfahrer eine gute Grundlage, die unterschiedlichen Interessen von Deutschen an Indien herauszuarbeiten. Hinzugezogen werden könnte auch Franz Reuleaux (1829-1905), „Eine Reise quer durch Indien im Jahre 1881“, die Indienpublikationen von Emil Selenka, die Artikelserie „Indische Briefe“ im „Berliner Tageblatt“ (1894) von Fritz Nölting und, der Vollständigkeit halber, auch die Briefe von Willem Karel van Dedem van Vosbergen (1839-1895), ehemaliger holländischer Kolonialminister, den Hübbe-Schleiden auf dem Schiff „Marquis Bacquehem“, das sie von Triest nach Bombay brachte, kennen lernte. Soviel ich sehe, sind diese Reiseberichte zur Rezeption und Veränderung des deutschen Indienbildes bisher noch nicht hinreichend gewürdigt worden wie auch generell eine Arbeit darüber fehlt, wie im allgemeinen die Deutschen mit der Einschwemmung indischer Gedanken umgegangen sind und vor allem - für die deutsche Geschichte wichtig -, ob und wie Indien fördernd oder hemmend, verstärkend oder schwächend auf die damalige Entwicklung des Antisemitismus mentalitätsgeschichtlich eingewirkt hat.
Ernüchterung
Was Hübbe-Schleidens Tagebücher vor allem so interessant macht, ist das Scheitern seiner spirituellen Bemühungen. Sein theoretisches Wissen kann Hübbe-Schleiden praktisch nicht umsetzen. Während sein Guru Ras Bihari Mukherji in der Meditation etwa zu einer Jesus-Vision vordringt, schafft es Hübbe-Schleiden nur, in Händen und Füßen die Kreuzigungsnarben Jesu zu empfinden. Trotz Yoga-Übung und des Einsatzes von Ganja (Haschisch) und Bhang, mit denen die Erfahrung des „Meisters“ erzwungen werden soll, gelingt es ihm nicht, in Indien die angestrebten spirituellen Erfahrungen zu machen. Den von ihm erstrebten Zustand des samâdhi erreicht er nicht. Wenn die publizierten Reise- berichte auch einen anderen Eindruck erwecken und Hübbe-Schleiden in Indien sich gern als „European sannyasi“ und „Yavana-Brahmane“ bezeichnet, so bleibt ihm dennoch die Seele Indiens verschlossen. Im Rahmen der Wiedergeburtslehre deutet Hübbe-Schleiden seine Erfahrung jedoch nicht als Scheitern. Ihm sind seine Bemühungen in Indien nur ein kurzes Zwischenspiel auf dem Weg durch viele Wiederverkörperungen. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß Hübbe-Schleidens religiös-spirituelles Scheitern in Indien zu einer Ernüchterung führte. Für ein weitergehendes Handeln im Dienste der Theosophie, so empfindet es Hübbe-Schleiden, fehlt ihm deshalb die Legitimation, die er im samâdhi zu erlangen gehofft hatte. Deshalb haben auch seine weitgreifenden Pläne für Deutschland, Europa und Amerika keine Chance einer Realisierung. Sogar ein Rückschritt hinter das bisher Erreichte deutet sich an, denn das spirituelle Scheitern in Indien prägte nicht nur Hübbe-Schleidens zukünftiges Verhältnis zu diesem Land, sondern hatte Auswirkungen auch auf die Entwicklung der theosophischen Bewegung in Deutschland. Die Rolle, die er vor seiner Reise nach Indien in der Theosophischen Bewegung in Deutschland gespielt hatte, nimmt er nach seiner Rückkehr nicht mehr im vollen Umfange auf. Vor diesem Hintergrund und des schwächelnden Zustandes der theosophischen Bewegung in Deutschland, wie ihn Hübbe-Schleiden in den Tagebüchern Annie Besant gegenüber schildert, erscheint nicht nur der Auftritt Rudolf Steiners (1861-1925) als Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, sondern auch die spätere Abspaltung der Anthroposophen geradezu als eine notwendige historische Konsequenz. Zurückschauend möchte man die These wagen, daß in Indien im spirituellen Scheitern Hübbe-Schleidens die Entstehung der Anthroposophischen Gesellschaft unter Rudolf Steiner, trotz vieler kleiner Ablösungsschritte, bereits im Kern angelegt ist.
Hübbe-Schleiden teilt als Kind seiner Zeit die Auffassung von der Überlegenheit der „weißen Rasse“. Hübbe-Schleidens Rassismus ist teils biologisch, teils kulturell, in Bezug auf die Tibeter, wie bei Richard Garbe, auch ästhetisch begründet. Durch eine entsprechende Entwicklung kann es bezüglich des Kulturgefälles freilich zu einer Annäherung kommen. Dies deuten Hübbe-Schleidens kritische kultur- und religionsphilosophische Bemerkungen zur Entwicklung des Hinduismus an, in denen ihm jedoch selbst hinduistische Reformbewegungen, wie etwa der Brahmo Samaj, vorangegangen sind. Ähnliches gilt übrigens auch für die Notizen zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ einschließlich einer europäischen Währung. Hier ist ihm Victor Hugo (1802-1855) zuvorgekommen.. Hübbe-Schleiden kommt, wie in seinen Träumen, oft zu spät. Inwiefern dies freilich auch auf seine Forderung zutrifft, die unsinnige Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu beenden, bedarf der Untersuchung, zumal Publikationen zu diesem Thema fast nur über ihre Entstehung und ihre Überwindung nach dem zweiten Weltkrieg handeln. In der kritischen Haltung den Engländern gegenüber, wie in seiner Neigung zum philosophischen System des Vedânta und im Erfolg der theosophischen Gesellschaft in Indien sind Hübbe-Schleidens positive Bewertungen Indiens begründet. Doch trotz der Begegnung mit der von Ramakrishna ausgelösten „bengalischen Renaissance des Hinduismus“ mit ihrer „Bhakti-Frömmigkeit“ springt der „Funke“ des Neo-Hinduismus auf Hübbe-Schleiden nicht über. Auch die spirituelle Führung durch seine beiden Gurus, Pashupati Deva und Ras Bihari Mukherji, wie auch die persönliche Begegnung mit Abhedananda (1866-1939) und weiteren „Ramakrishna-Schülern“ oder „Vivekananda-Brüdern“ in Almora und später in London mit Edward Toronto Sturdy (1860- 1957) und Vivekananda selbst, bleiben für ihn ohne greifbares spirituelles Erlebnis. Doch ist und bleibt Hübbe-Schleiden zumindest in einem Aspekt an der indischen Entwicklung auch weiterhin interessiert, und zwar an ihrem Erfolg in der westlichen Welt. Unter dem 25. Oktober 1895 notiert er zu Vivekananda: „Wenn wir doch etwas derartiges wie es Vivekananda nun in Amerika und mit [Edward Toronto] Sturdy’s Hülfe auch wohl jetzt in England gegründet hat, auch in Deutschland hätten oder haben könnten. - Diese ernste praktische Lebensgrundlage, crystallisirt zu einer festen Organisation.“
Trotz Theosophie und einer eingeschränkten Indienbegeisterung bleibt Hübbe-Schleiden zum großen Teil in seiner christlich deutschen Erziehung gefangen. Sie dürfte letztlich auch für sein spirituelles Scheitern in Indien verantwortlich sein. In den Tage- und Notizbüchern scheint mal stärker, mal schwächer sein protestantischer Hintergrund immer wieder hindurch. Vor allem in der Ablehnung seiner protestantischen Herkunft und in der Alternative von „Liebe“ (bhakti) und „Erkenntnis“ (jñ- ana), die Hübbe-Schleiden teils als sich ausschließend betrachtet, macht sich sein protestantisches Erbe bemerkbar. Nicht Gott wendet sich dem Menschen, sondern der Mensch wendet sich Gott zu. Das lutherische „sola gratia“ hat für Hübbe-Schleiden keine Bedeutung. Doch wird Hübbe-Schleiden deswegen noch nicht zu einem Hindu. Auch wenn wir Hübbe-Schleiden, mit Dhoti und Turban bekleidet, im Aschram von Bhola Giri in Hardwar am Ganges als einzigen Europäer inmitten einer Schar von Sannyasins bei einer „Brahmanenfütterung“ und als einzigen Europäer unter Tausenden von Teilnehmern an den Feierlichkeiten zum Geburtstag Ramakrishnas in Dakshineshwar erblicken, so können diese Bilder gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hübbe-Schleiden der christlich deutschen Sphäre wesentlich verhaftet bleibt. Wenig auffällig ist es daher, daß er zwar zahlreiche heilige Stätten des Hinduismus besucht, Hinweise auf deren Kultlegenden sich in den Notizbüchern jedoch kaum finden. Auch für den indischen „Götzendienst“ hat Hübbe-Schleiden nur sehr bedingt Verständnis, da er die Idolatrie nur für einen bestimmten Entwicklungsstand der Seele gelten läßt. Der Eindruck entsteht, daß es ihm in Indien vornehmlich um die Abschöpfung von hinduistischen Ideen, Vorstellungen und Praktiken zur eigenen religiös-spirituellen Entwicklung geht. Deshalb wirkt er in Indien zeitweilig auch wie ein Fremdkörper. Er selbst war sich dessen durchaus bewußt. Seine Äußerung zum Ende des 11. Tagebuches, daß er Indien gründlich satt habe, spricht eine deutliche Sprache.
Die Theosophische Gesellschaft vermittelte zur damaligen Zeit, wenn auch keineswegs allein, der westlichen Welt eine Vielzahl indischer Worte, Begriffe, Symbole, Vorstellungen und spirituelle Praktiken. Ungeachtet seiner persönlichen Haltung zu Indien ist auch Hübbe-Schleiden in den Kulturtransfer zwischen Indien und der westlichen Welt eingebunden. Obgleich Hübbe-Schleiden in Indien auf Deutsche trifft, die sich der hinduistischen oder buddhistischen Gedankenwelt angenähert haben, ist es schwer zu entscheiden, ob und in welchem Umfang diese beim Austausch östlicher und westlicher Vorstellungen mitgewirkt haben. In Kalkutta, wo er einige Tage im Hause von Leopold Salzer verbrachte, erfreut sich Hübbe-Schleiden an der Musik, die zur abendlichen Stunde von deutschen Nachbarn zu ihm dringt. Mehr erfahren wir über diese Deutschen jedoch nicht. Anders im Falle von Paul Möwis, einem „schneidigen Berliner“, wie Hübbe-Schleiden ihn charakterisiert. Über diesen deutschen Entomologe erfahren wir etwa, daß er zum tibetischen Buddhismus übertrat und in Darjiling seinen Lebensunterhalt vor allem durch den Verkauf von Schmetterlingen und tibetischen Devotionalien bestritten zu haben scheint. In seinem Reisebrief „Eine Winterreise in Indien“ beschreibt Hübbe-Schleiden, wie der Bhutaner Dausamdup in den Geschäftsräumen von Paul Möwis Fragen interessierter Europäer, Amerikaner und Australier in fließendem Englisch beantwortet. Ob Deutsche darunter sind, bleibt offen. Sie sind in Darjiling zwar präsent, doch vor allem als Teepflanzer. Es scheint, als ob das Verhalten der Deutschen in Indien sich signifikant von dem anderer Europäer unterscheidet. So wundert sich etwa Richard Garbe, daß er auf dem einheimischen Markt in Darjiling an Europäern nur Deutsche triff. Einer dieser Deutschen ist Carl Forstmann, der 1926 in Berlin ein Buch über den Himalaja veröffentlichte, das biographisch jedoch unergiebig ist.
Nachwirkungen der Indienreise
Der 1879 mit der Sitzverlegung der Theosophischen Gesellschaft nach Indien erfolgten Öffnung der Theosophie für indisches Gedankengut konnte Hübbe-Schleiden sich bereits vor seiner Indienreise nicht entziehen.
Wenig erstaunlich mag es deshalb sein, daß er sich in Indien nicht nur mit dem Hinduismus beschäftigt und das Gespräch mit Brahmanen und Gurus sucht, sondern sich auch um Grundkenntnisse des Hindustani und des Sanskrit sowie um die sachgerechte Übersetzung von Sanskritworten ins Englische und Deutsche bemüht. Gelegentlich versucht er sogar westliche und östliche Vorstellung in ihrer Begrifflichkeit anzunähern, so etwa in seinen Bemühungen zur Überetzung von Joh. 4, 24 (Gott ist Geist). Doch Hübbe-Schleiden ist kein Sanskritgelehrter. Man sieht ihn in Indien nicht, wie etwa Richard Garbe oder Karl Eugen Neumann, mit einem Pandit oder buddhistischen Gelehrten über Interpretationsfragen eines Sanskrit- oder Pali-Textes diskutieren. Vielleicht mag es die juristische Ausbildung sein, daß bei Hübbe-Schleiden sich immer wieder organisatorische Fragen in den Vorgrund drängen. So spielt er in Indien, ungeachtet ihrer Vereinbarkeit mit der Idee vom „Arischen Christus“, mit dem Gedanken, in Deutschland eine „Indische Bewegung“ ins Leben zu rufen, ein „indisches Kloster“ zu gründen und zwei Brahmanen als Mitarbeiter nach Deutschland zu holen. Seine diesbezüglichen Pläne greifen auf Europa insgesamt und auf Amerika aus. Mit solchen oder ähnlichen Plänen steht er freilich nicht allein. Nach einer kurzen Notiz vom 28. Februar 1895 sollte Margarethe Lenore Selenka, geschiedene Neubürger, geb. Heinemann, die mit ihrem späteren Ehemann, dem Zoologen Emil Selenka, 1892 in Indien war und dort „Yogamaya“ genannt wurde, ein Manuskript über eine milde Form des Hatha-Yoga des kalkutter Guru Panchanan Bhattacharya übersetzen und in Deutschland verbreiten. Doch wurde weder das „indische Kloster“ noch eine Verbreitung des Hatha-Yoga in Deutschland zur damaligen Zeit realisiert. Neben den deutschen akademischen Beschäftigungen mit Indien - zur damaligen Zeit vor allem mit den Namen des bereits britisch gewordenen Max Müller (1823-1900) und des Kieler Professors Paul Deussen verbunden - sind in Deutschland neben den Theosophen auch die Neo-Buddhisten in den Deutsch-Indischen Kulturtransfer eingebunden. Dass dieser Transfer freilich nicht nur von Ost nach West, sondern auch in umgekehrter Richtung erfolgen konnte, zeigt nicht nur die Homöopathie, sondern etwa auch Hübbe-Schleidens Notiz, daß Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ aus dem West-östlichen Diwan über eine englische Übersetzung ins Sanskrit übertragen wurde. Dies dürfte wohl die erste Übersetzung eines Goethe-Textes ins Sanskrit sein. All den Verästelungen nachzuspüren, die sich in den Schilderungen der Tagebücher auftun, kann hier freilich nicht der Ort sein, erst recht nicht, ihre abschließende historische Einordnung und Bewertung zu versuchen. Dies gilt nicht nur für die Bestimmung der Formen des Yoga, die Hübbe-Schleiden praktiziert hat, sondern auch für die Frage, inwieweit Hübbe-Schleidens Gedanken selbst schon eine Widerspiegelung indischer Vorstellungen sind, wie sie etwa vom Brahmo Samaj entwickelt und vertreten wurden, oder wie er sie in verschiedenen Publikationen zum Vedânta vorgefunden hat. Hübbe-Schleiden erwähnt gelegentlich in Publikationen und Briefen Paul Deussens bedeutende Arbeit zur Vedânta-Philosophie, des Missionar Eduard Raimund Baierleins (1819-1901) Buch zum Vedânta und die wenig be-kannte Zeitschrift „The Vedantin. A Journal of Advaita Doctrine“. In einem Brief vom 6. Juli 1895 berichtet Hübbe-Schleiden an Pashupati Deva, daß er bereits in seiner Münchner Zeit von einem Hindu persönlich in die Vedânta-Lehre eingeführt worden sei. Ungeachtet der abschließenden historischen Einordnung und Bewertung der vielen Details in Hübbe-Schleidens „Indischem Tagebuch“ dürfte freilich die Existenz der Anthroposophischen Gesellschaft, um obige These wieder aufzunehmen, eine Folge von Hübbe-Schleidens Indienaufenthalt sein. Hätte Hübbe-Schleiden nach der Rückkehr aus Indien sich den Anforderungen der Theosophischen Bewegung in Deutschland gestellt, dann wäre in ihr für Rudolf Steiner wohl kaum Platz gewesen. Interessant wäre es freilich auch, den Spuren Hübbe-Schleidens in Indien selbst nachzugehen und zu prüfen, ob etwa seine dortigen Reden und Vorträge eine Resonanz hatten. Doch wäre das nur eine Facette des Gesamtbildes der Deutsch-Indischen Beziehungen im 19. Jahrhundert. In die umfassende Erforschung und wissenschaftliche Darstellung dieser Beziehungen müßte freilich auch die Erfassung jener Deutschen eingebunden werden, die damals in Indien lebten. Dann könnte ebenfalls geklärt werden, welchen Beitrag sie, die im Schatten akademischer und missionarischer Bemühungen stehen, für die Deutsch-Indischen Kulturbeziehungen geleistet haben. Hübbe-Schleidens indisches Tagebuch kann dazu nur erste Andeutungen liefern.