Europäische Aufklärung und Vedische Kultur

Von Barbara Denicolò

Gekürzte Fassung von "Hinduismus und Aufklärung - Versuch einer Annäherung" in: historia.scribere 4 (2012), S. 415–452, [http://historia.scribere.at


Als „Aufklärung“ wird eine der wichtigsten Europäischen Bildungsbewegungen bezeichnet und zugleich auch deren höchstes Ziel:
 
„Alle Autoritäten, Traditionen und Hierarchien am Maß einer neu definierten Vernunft kritisch zu prüfen, [...] die gesamte Lebenswelt nach diesen Gesetzen neu zu ordnen und möglichst viele Menschen fähig zu machen, kraft dieser Vernunft ein besseres, glücklicheres, selbstbestimmtes Leben zu führen.“ (Walther 2005, S. 791)

Der Theologe und Historiker Ernst Troeltsch bezeichnete die Aufklärung 1897 sogar als „Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der Europäischen Kultur und Geschichte“ (Kopitzsch, 2010, S. 20) und unterstrich damit ihre große Bedeutung für das moderne Europa. Die Aufklärung gilt als Ursprung der sogenannten liberalen Errungenschaften der Moderne, der Menschen- und Grundrechte, der Freiheit und Individualität, des Fortschritts, der Rationalität und der Wissenschaft. (Walther 2005, Sp. 792). „Aufklärung“ wird gemeinhin als rein Europäisches Phänomen definiert, das sich unter besonderen historischen Bedingungen seit Ende des 17. Jahrhunderts in der westeuropäischen Oberschicht entfaltete. Sie erwuchs aus der „Opposition gegen die großen Autoritäten des 17. Jahrhunderts“, gegen den Absolutismus und die Theologie und wurde entscheidend unterstützt durch die „Vergrößerung und Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche in Europa seit dem 17. Jahrhundert: die Ausweitung der Bevölkerung, der Städte, der agrarischen, gewerblichen und industriellen Produktion, des Konsums, des internationalen Verkehrs und des Welthandels.“( Walther 2005, Sp. 795).

Die Kultur Indiens verspricht ebenfalls "Erleuchtung". Kann aber das europäische Phänomen auf andere Erdteile, Kulturen und Religionen übertragen werden? Kann in der Geschichte Indiens ebenfalls von „Aufklärung“ gesprochen werden? Kann die Kultur und Religion dieses fernen Landes überhaupt mit Europa und dem Christentum verglichen werden? Kaum eine andere Tradition hat eine so intensive und kontroverse Diskussion ausgelöst wie die Kultur Indiens. In mehreren Jahrtausenden aus den Glaubensvorstellungen der verschiedenen Bewohner*innen entstanden, gleicht sie „einem gewaltigen Strom, der in ungebrochener Kontinuität durch die Jahrhunderte fließt und die Wasser zahlreicher Flüsse in sich aufgenommen hat.“(Glasenapp 1948, S. 11–23). Zwar entwickelte sich das Interesse an indischer Philosophie und Religion in Europa bereits im 19. Jahrhundert, doch noch immer bestehen Forschungsdefizite. 

1. Hinduismus - Erbe der Vedischen Kultur

Unter dem Begriff "Hinduismus" werden heute viele zum Teil sehr unterschiedliche Religionsformen zusammengefasst. Zielführender ist es daher, den Hinduismus nicht als eine Religion, sondern als Gesamtheit einer Kultur zu begreifen, als eine Lebensart, welche aus zahlreichen Traditionen besteht. Der Begriff Hinduismus umfasst somit eine soziokulturelle Einheit, aufgeteilt in verschiedene Kulte, die ein letztes, gemeinsames Ziel anstreben. Sie sind untereinander durch ein gemeinsames kulturelles, traditionelles und zivilisatorisches Erbe verbunden. (Piano 2004, S. 14 ff.)

„Hindu“, aber auch die Ableitung „Inder“ waren ursprünglich geographische Begriffe mit der Bedeutung „Menschen, die am Indus wohnen“. Diese Bezeichnung bezog sich auf die Bewohner*innen dieser Region, jedoch nicht auf deren Religion. Erst mit der islamischen Expansion in Nordindien ab dem 12. Jahrhundert erhielt das Wort politische und dann auch religiöse Bedeutung. Muslime bezeichneten damit Inder*innen, welche nicht ihrer Religion angehörten. Dieses Wort ist eine Fremdbezeichnung und daher auch nicht in den heiligen Texten vorhanden. Die europäischen Kaufleute und Missionare des 16. Jahrhunderts übernahmen den Begriff in seiner religiös-politischen Bedeutung. Die britische Kolonialmacht definierte im 19. und 20. Jahrhundert schließlich all jene Menschen aus dem indischen Subkontinenten als Hindu, welche sich nicht zum Islam, Christentum oder Buddhismus bekannten. Der Begriff „Hinduismus“ entstammt ebenfalls einer äußeren Perspektive und tritt erstmals in europäischen Texten des frühen 19. Jahrhunderts auf, die dem verstärkten Interesse am fernen Indien und seiner Religion entsprungen waren. Erst nachträglich wurden religiöse Gemeinschaften, Texte und Praktiken aufgrund von Gemeinsamkeiten als „hinduistisch“ klassifiziert.

Diese Begriffe wurden von den dort lebenden Menschen erst übernommen, als eine kulturelle und politische Abgrenzung gegenüber der Kolonialmacht England und dem missionierenden Christentum bzw. dem Islam nötig wurde. Radikalere Strömungen konstruierten eine politische Hindu-Identität bzw. einen nationalen Hinduismus, wodurch der Glaube gegenüber dem Verhalten und der Volkszugehörigkeit zweitrangig wurde. (Becke 1996, S. 22–28 )

Heute herrscht in der Forschung ein allgemeines Bewusstsein dafür, unter welchen wechselnden historischen Bedingungen der Begriff „Hinduismus“ entstanden ist. Hinduismus als einheitliche Religion mit grundlegenden Merkmalen ist somit eine europäische Erfindung, eine Zusammenfassung unterschiedlicher Formen indischer Religiosität und verschiedener Heilswege, die sich auf dem indischen Subkontinent entwickelt haben.

Der Hinduismus ist in seiner Gesamtheit keine Religion, sondern hat sich im Verlauf der Jahrhunderte durch verschiedene Einflüsse innerhalb eines geographisch begrenzten Kulturraumes entwickelt und besitzen auch bestimmte feste soziale, ethische und metaphysische Anschauungen, die großteils als verbindlich gelten. Diese stellen jedoch nur eine Grundlage dar für zahlreiche Systeme, die sich in Bezug auf Stifterfiguren, heilige Schriften, Glaubenslehren, Götterwelt und Rituale oft erheblich voneinander unterscheiden. Im Rig-Veda (164.46) steht dazu:

„Wahrheit ist Eines, die Gelehrten benennen es verschieden“.

Diese Gemeinsamkeiten finden sich jedoch weniger in den philosophischen und theologischen Lehren, als in den religiösen Praktiken. Denn nicht ein gemeinsamer Glaube an bestimmte Götter oder religiöse Lehren verbinden diese religiösen Gemeinschaften und sozio-religiösen Systeme, sondern u. a. jene Merkmale, welche die Welt-Hindu-Konferenz im Februar 1979 in Allahabad veröffentlicht hat:

1.1 Sanatan Dharma - ewiges Weltgesetz

Hauptmerkmal, das allen Kulten, die mit dem Begriff „Hinduismus“ verbunden werden, eigen ist, ist die Anerkennung gewisser allgemeiner sozialethischer Grundanschauungen, welche mit dem Wort „Sanatan Dharma“, ewiges Weltgesetz, zusammengefasst werden. In seiner wörtlichen Grundbedeutung bezeichnet Dharma etwas Stabiles, das sich nicht verändert, wie z. B. die Form der Dinge, Naturgesetze oder die Ordnung des Kosmos. Das Gesetz gilt für Menschen, Tiere und alle Elemente, es umfasst die natürliche und gesetzte Ordnung. Dharma beinhaltet Rituale und Zeremonien, das Zivil- und Strafrecht, die Vorschriften des Kastenwesens, sowie das Opfer- und Wallfahrtswesen, vor allem aber das richtige Handeln entsprechend den Gesetzen des Veda. (Michaels 2006, S. 30–36)

Dharma ist ewiges Gesetz ohne Anfang und Ende und existierte daher bereits vor seiner Offenbarung in den heiligen Schriften. Es erhält die Ordnung in der Welt aufrecht und ist somit Ausdrucksform des göttlichen Willens. Das Gesetz offenbart sich in den Texten des Veda und anderen heiligen Überlieferungen, aber auch im angemessenen Verhalten und den traditionellen Bräuchen der Weisen, sowie in den eigenen Bedürfnissen, denen das Verhalten nicht widersprechen darf. Er manifestiert sich als natürliche Ordnung der materiellen Welt, als sittliche Ordnung, welche jedem Wesen das richtige Verhalt vorschreibt und drittens als magisch-rituelle Ordnung, welche die notwendigen Rituale und Opfer bestimmt. (Glasenapp 1951, S. 57 ff.; Gonda 1960, S. 288–295; Kölver 2003, S. 48–56; Neuner 1962, S 46 f.).

Obwohl Dharma in der Überlieferung als einheitliches und absolutes Prinzip beschrieben wird, ist er in der Realität ein relativer Begriff. Denn in seiner Bedeutung als sittliche Weltordnung besitzt Dharma neben einer allgemeinen Ebene mit ethischen Prinzipien und Tugenden, die für alle Menschen als verbindlich gelten können, auch eine individuelle Ebene, welche sich je nach räumlicher und zeitlicher Situation, Geschlecht, Kastenzugehörigkeit und Lebensalter, Lebenslage und religiöser Ausrichtung in unterschiedlichen rituellen und gesellschaftlichen Vorschriften äußert. So gesehen hat jedes Individuum ein eigenes Dharma, einen eigenen Weg, um zu Harmonie mit der Natur und der menschlichen Gesellschaft zu kommen und seiner natürlichen Bestimmung zu entsprechen. Bei Konflikten zwischen dem allgemeinen und dem persönlichen Dharma haben die Pflichten in Kaste und Gesellschaft gegenüber der persönlichen Freiheit Vorrang. (Malinar 2009, S. 186–192; Michaels 2006, S. 30–36. )

Auch das Kastenwesen, welches laut der Überlieferung zusammen mit der Welt erschaffen wurde, ist ein Merkmal des Hinduismus. Hindu ist man also von Geburt an, nicht durch ein Bekenntnis, und die jeweilige Kastenzugehörigkeit ist göttlicher Wille und gerechter Lohn für vorhergehende Leben. Diese göttliche Ordnung teilt die Menschen in vier große Stände und in zahlreiche Unterkasten ein: in die oberste Schicht der Brahmanen (Priester), in die Klasse der Krieger und in die Klasse der Bauern und Gewerbetreibenden. Den vierten Stand bilden die Sudra, die den anderen drei Ständen dienen. Außerhalb diesen vier Ständen stehen alle Menschen, die überhaupt keinen Reinheitsgesetzen folgen. (Malinar 2009, S. 192–201; Glasenapp 1922, S. 6–14; Gonda 1960, S. 295–301; Kölver 2003, S. 149–175; Vanamali Gunturu 2000, S. 62 f.)

Obwohl durch Globalisierung und Urbanisierung sowie durch höherer Bildung die Macht des Kastenwesens v. a. in den Städten abnimmt, ist diese Struktur für viele Menschen noch immer die einzige soziale Garantie und Versorgung. (Piano 2004, S. 143–147; Neuner 1962, S. 47 ff.; Michaels 2006, S. 30–36, 177–183; Malinar 2009, S. 184–192 )

Dieses System beruht auf der Anerkennung der unbedingten Autorität des Veda, einer großen Sammlung religiöser Schriften, welche im Hinduismus als unfehlbare Quelle für alles irdische und überirdische Wissen gilt. Auf ihm beruht das Wissen um die sittliche Weltordnung, sowie jene Anschauungen, Einrichtungen und Gebräuche, die alle Hindus gemeinsam haben, der Glaube an bestimmte Götter (Naturgesetze) , sowie die Notwendigkeit, bestimmte Rituale, Opfer und andere Zeremonien zu vollziehen. (Glasenapp 1951, S. 21 ff.)

1.2 Die Veden und die Vedische Literatur

Der Zeitbegriff und die Epochen der Vedischen Kultur sind ebenso umstritten wie ihre zeitliche Begrenzung und Interpretation. Die Entstehung bedeutender historischer Werke kann nur weiträumig abgrenzt werden. Nicht chronologische Daten werden daher zur Periodisierung herangezogen, sondern Paradigmenwechsel in Religion und Gesellschaft, die bedeutenden und richtungsweisenden Werken entsprechen. (Glasenapp 1958, S. 23 f.; Zimmer 1992, S. 546–550.)

Am Anfang stand die Akzeptanz des Veda als autoritativer Text mit seinem Ritualismus als zentraler religiöse Praxis. Die gesamte Kultur und Tradition sind im Veda erfasst, der wichtigsten Überlieferung Indiens und dem ältesten Schrifttum der Welt, das auch im modernen Hinduismus noch grundlegend ist. (Becke 1996, S. 33–36; Piano 2004, S. 32–35)

Dieses umfangreiche Wissen wurde zunächst in mündlicher Überlieferung weitergegeben und erst spät verschriftlicht und kanonisiert. Die Vermittlung und Überlieferung war traditionell den Brahmanen vorbehalten. Das vedische Sanskrit gilt auch heute noch als Ritual- und Kultursprache. (Glasenapp 1922 S. 23–26; Malinar 2009, S. 33–36; Kölver 2003, S. 58 f.; Piano 2004, S. 32–35.)

Der Veda wurde um 3000 v. Chr. in vier Teile gegliedert: Rigveda, der Veda der Weisheit, Atharva-Veda, der Veda der magischen Texte gegen Krankheiten, Dämonen oder Unglück im Krieg; Des Weiteren gibt es noch den Yajur-Veda, den Veda der Opferformeln, und den Sama-Veda, den Veda der Gesänge. ( Glasenapp 1958, S. 24–30; Gunturu 2000, S. 46–51; Piano 2004, S. 32–35; Gonda 1960, S. 9–15; Glasenapp (Hrsg.) 1958, S. 22 ff. )

Veda bedeutet wörtlich „Wissen“ und ist nach der indischen Auffassung eine dem Menschen geoffenbarte, ewige und göttliche Wahrheit, Jene Menschen, die ihn erkannten, haben ihn als Eingebung erhalten.

Die Weltordnung wird im Veda als rituelles System dargestellt, das von der richtigen Durchführung der vedischen Opfer abhängt. Ebenso basieren die vier gesellschaftlichen Stände auf gegenseitiger Abhängigkeit der vier Gruppen durch das vedische Opfer. Je nach Anlass, Art der Opfer oder Adressat werden in den einzelnen Veden zahlreiche Opfer unterschieden. In den Veden fehlt die für den modernen Menschen selbstverständliche Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter, geistiger und stofflicher, abstrakter und konkreter Materie. Was eine Wirkung auf den Menschen ausübte, besitzt auch eine unabhängige Existenz. Diese Vielheit der lebendigen Substanzen agieren mit- und gegeneinander und bilden so die Wirklichkeit. (Glasenapp (Hrsg.) 1958, S. 24–30. )

An die vier Veden schließen sich weitere Text-Gattungen an, welche sich mit verschiedenen Aspekten des Rituals beschäftigen und ebenfalls zur Vedischen Literatur gehören:

Die Brahmana-Texte, ein rein ritualistisches Schrifttum, das mit dem heiligen Wissen vom Opferwesen (Yagya) zu tun hat. In diesen Werken werden die Opfer, welche von den Priestern dargebracht werden müssen, ihre symbolische Bedeutung und das erwartete Ziel genau beschrieben. Denn nicht die Götter, sondern die Opfer bildeten in der vedischen Zeit den Mittelpunkt des religiösen Denkens. (Glasenapp (Hrsg.) 1958, S. 31–37; 1958, S. 29–34; Neuner 1962, 2 f., 9–12; Malinar 2009, S. 33–36; Becke 1996, S. 33–36; Piano 2004, S. 32–35) 
In den - in der Sammlung der Brahmana-Texte enthaltenen - Upanishaden konzentriert sich die Suche nach einem letzten Weltprinzip in den zwei Begriffen Atman und Brahm: 
  • Atman, die Einzelseele, ist der ursprüngliche Kern einer Individualität und 
  • Brahm ist die absolute Totalität allen Seins.
Die Upanishaden werden auch als Vedanta bezeichnet, als Vollendung des Veda, die dessen tieferen und geheimen Sinn entdeckt (Glasenapp (Hrsg.) 1958 S. 35–44; Piano 2004, S. 30–35; Michaels 2006, S. 49–53) Das höchste Ziel der Vedischen Kultur besteht in der Erlösung (Moksha) aus der leidvollen Welt durch endgültige Befreiung der Seele aus dem Kreislauf von Geburt und Tod (Sansara), den das Individuum als Resultat seiner Taten aus früheren Existenzen (Karma) durchwandern muss, entweder durch Opfer, Askese, Meditation, und/oder Yoga.

Die Sutras (Leitfäden) als Glieder des Veda erläutern die richtige Aussprache des Veda und die Durchführung der Riten, behandeln Grammatik und Etymologie sowie die Bestimmung der Zeitqualität. 

Die philosophischen Systeme, die sog. sechs Darshanas liefern die systematische und rationale Begründung für das Studium des Veda.

Die Puranas erklären in enzyklopädischer Weise die Mythologie und historische Einbettung verschiedener Gottheiten. Ein Purana trägt in der Regel den Namen jenes Gottes, von dem es hauptsächlich handelt und enthält v. a. Mythen, Ritualetexte, Heldengeschichten, Königslisten und geographische Beschreibungen der heiligen Stätten.(Glasenapp, Indische Geisteswelt,1958, S. 94–124; Malinar, 2009, S. 61–66, 165–169, 219–232; Michaels,2006, S. 57 f., 74–78)

1.3 Von der Vedischen Kultur zum Hinduismus (ab ca. 500 v. Chr.)

Eine heute noch relevante Reformbewegung Vedischer Kultur begann um 500 v. Chr. Neue Literatur entstand nun auch in der Volkssprache. Kosmologische und ritualistische Probleme verloren an Bedeutung, Ethik und sittliche Fragen wurden wichtiger. Im Zuge dieser Reformbewegung entstanden die für den späteren Hinduismus grundlegenden Konzepte. Im vorklassischen Hinduismus kam es zu einer Restauration des vedisch-brahmanischen Hinduismus und zu einer Rückbesinnung. 

Die Herrschaft der Gupta (250–500 n. Chr.), das letzte indische Großreich, gilt als goldene Zeitalter des Hinduismus (Klassischer Hinduismus 200 v. Chr. - 1100 n. Chr.). Das kulturelle, literarische und religiöse Leben wurde von diesen toleranten Fürsten sehr gefördert und gelangte zu seiner höchsten Blüte. Das Sanskrit entfernte sich von der Volkssprache und entwickelte sich zu einer wissenschaftlichen, höfischen und künstlichen Sprache, deren Kenntnis sich zunehmend auf die Kaste der Brahmanen beschränkte.(Glasenapp (Hrsg.)1958, S. 67–70; Neuner 1962, S. 13–15, 63 f.)

Nach dem Zusammenbruch dieser letzten großen Dynastie kam es in der Zeit zwischen dem 7. und 13. Jahrhundert zu einer Regionalisierung und Zersplitterung der Macht. Der politische Zerfall führte auch in der Religion zu einer Diversifizierung und Regionalisierung sowie zu einer Vermehrung der religiösen Traditionen. Lokale Kulte wurden ebenso wie die Regionalsprachen aufgewertet, und es entstanden ländliche, devotionale Bewegungen.

1.4 Islamische (1100–1800 n. Chr.) und britische (1800 – 1947) Herrschaft

Im 13. Jahrhundert eroberten islamische Herrscher den indischen Subkontinent und brachten ihre Religion mit, welche vom Hinduismus trotz seiner enormen Fähigkeit zur Integration nicht assimiliert werden konnte. Denn der Islam lehnte ebenso wie das Christentum das Kastensystem strikt ab. Zudem waren die Eroberer der ansässigen Bevölkerung politisch und wirtschaftlich überlegen. Die Herrscher sicherten ihre Macht durch eine strenge Verwaltung und begannen durch Ansiedelung und Förderung von Beamten und Schreibern gezielt mit der Islamisierung. Persisch wurde Verwaltungssprache und die Scharia, das islamische Recht, eingeführt. 
Dennoch war die Islamisierung insgesamt erfolglos und besonders im Süden konnten Hindus ihre kulturellen und religiösen Bräuche parallel zum Islam weiterpflegen. Auf der anderen Seite zeigten auch muslimische Herrscher teilweise großes Interesse an den indischen Traditionen und ließen viele Übersetzungen aus dem Sanskrit anfertigen. Als Gegenreaktionen auf die islamische Herrschaft und in Fortsetzung der bereits bestehenden Regionalisierungstendenz gab es im Hinduismus Neuerungsbewegungen. Die Brahmanen konzentrierten sich weiter auf ihr Erbe, kommentierten die alten Schriften und verfassten Kompendien, Dogmatiken, Systematiken, Chroniken und Historiographien. (Malinar 2009, S. 91 ff.)

Mitte des 18. Jahrhunderts begann das Reich der Moguln zu zerfallen, und die ostindische Handelskompanie aus Großbritannien gewann immer mehr Einfluss. 1757 begann das Empire mit der Eroberung des Landes, welche 1876 ihren Abschluss fand, als die englische Königin zur Kaiserin von Indien gekrönt wurde. Vorher hatte es nur vereinzelte Kontakte mit dem Christentum und der Geisteswelt Europas gegeben. Im Zuge der zunehmenden militärischen und politischen Kontrolle führte Großbritannien das englische Erziehungs- und Universitätssystem sowie europäische Wirtschaftsmethoden ein, förderte Industrialisierung und Verkehr, machte Englisch zur Amtssprache und brachte abendländische Ideen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse in das Land. (Glasenapp 1952, S. 44 ff.) 
Durch die Einführung der Druckerpresse und neuer wissenschaftlicher Methoden wurden besonders die gebildeten Schichten, die der traditionelle Hinduismus nicht befriedigen konnte, von den Theorien des Rationalismus und Positivismus beeinflusst. Der volkstümliche und traditionelle Hinduismus wurde davon allerdings kaum berührt oder gar bedrängt. Im Zuge des Kulturaustausches zwischen Indien und Europa kam es zu einer Abwertung der traditionellen indischen Religionen, Traditionen und Philosophien. Die Gelehrtensprache Sanskrit wurde durch neue indische Sprachen und Englisch ersetzt. Aus der scheinbaren wissenschaftlichen und technischen Überlegenheit der Europäer wurde ein moralischer und zivilisatorischer Führungsanspruch abgeleitet. (Piano 2004, S. 95–100; Glasenapp 1958, S. 89–94 ) 
Einerseits begrüßten die Menschen die englische Herrschaft als Ende der moslemischen Unterdrückung und als Chance für sozialen und ökonomischen Fortschritt, andererseits entwickelten sich durch die Abwertung der indischen Kultur und Religion zunehmend Minderwertigkeitsgefühle. Das Unbehagen gegenüber den Kolonialherren wuchs, und die zunehmende Ablehnung des europäischen Materialismus führte zu einer Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln und Traditionen. Neben politisch-militanten Strömungen, die für eine Befreiung Indiens kämpften, bildete sich in den gebildeten Kreisen ein ethischer Reformhinduismus, der verschiedene Missstände (Witwenverbrennungen, Kinderheirat, Diskriminierung) verurteilte und die Demokratisierung der hinduistischen Gesellschaft förderte. Die Vedanta-Philosophie wurde zur einheitsstiftenden Lehre und Religion eines nationalen Hinduismus. Diese nationalistischen bzw. christlich-hinduistischen Bewegungen fanden mit der Unabhängigkeit 1947 ein Ende. (Michaels 2006, S. 63 ff.; Neuner 1962, S. 5 f., 16; Malinar 2009, S. 104–119)

1.5 „Moderner Hinduismus“ seit 1947

In der Verfassung der Republik Indien wurden die europäischen Ideale von Demokratie, Freiheit und Gleichheit verankert. Jegliche religiöse Diskriminierung wurde abgeschafft und Religionsfreiheit und freie Religionsausübung garantiert. Dennoch bleiben viele Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten, die mit dem Kastenwesen verbunden sind, wie die Unberührbarkeit, noch tief in der Gesellschaft verankert. Trotz einer Quotenregelung für benachteiligte Gruppen ist der soziale Aufstieg noch immer sehr schwierig und auch die Rechte der Frauen noch nicht vollständig verwirklicht. In der Gegenwart verändern Globalisierung, Tourismus und Medien, Industrialisierung und Urbanisierung die Gesellschaft weiter. Besonders in den Städten verschwimmen die Trennungen durch Kaste und Geschlecht mehr und mehr, Reichtum und Erfolg im Beruf werden wichtiger. Obwohl der Hinduismus aufgrund seines polyzentrischen Wahrheitsbegriffs eigentlich keine missionierende Religion ist, ziehen viele Gurus aufgrund der Erfordernisse der Zeit nach Europa und Amerika und begeistern die Menschen. Denn in diesen Ländern wird der Hinduismus als spirituelle Alternative zum westlichen Materialismus immer wichtiger. (Glasenapp 1958, S. 18–21; Hutter 2004, S. 221–225, 227–233; Malinar 2009, S. 104–126; Gonda 1963, S. 253–345)

2. Philosophische Hauptthemen Vedischer Kultur aus Europäischer Sicht

Aus Platz- und Zeitgründen kann es im Folgenden nur um jene Fragen gehen, die aus einer europäischen Sicht für das Verständnis der indischen Philosophie und Religion und den Vergleich zwischen indischem und europäischem Verständnis von Wissenschaft und Philosophie wichtig erscheinen.

2.1 Erkenntnis 

In der indischen Philosophie werden bis zu neun Erkenntnismittel unterschieden, von denen drei besonders wichtig sind: 
  • die sinnliche Wahrnehmung, 
  • die Schlussfolgerung und 
  • die zuverlässige Mitteilung, entweder durch Offenbarung oder durch Autoritätspersonen. (Glasenapp 1958, S. 359 f.; Glasenapp 1948, S. 59–63)
Alle intellektuell geschaffenen philosophischen Theorien werden nur als begrenzte Gedankenkonstruktionen angesehen. Sie sind eine Vorstufe für die Erfassung der höchsten universalen Wahrheit, welche bereits vorhanden ist und nur belebt werden muss. Dies können nur Personen, deren Erkenntnisfähigkeit jene des durchschnittlichen Menschen übertrifft, weil sie entweder durch ihr gutes Karma überdurchschnittlich begabt sind oder durch Meditation und Askese diese besonderen Fähigkeiten erworben haben. Ihre Aussagen kann daher auch nur überprüfen, wer dieselben Voraussetzungen hat wie sie. Zur Bestätigung der Erkenntnis dient die vedische Überlieferung in Form von Sutras (Leitfäden) und Shastras (Lehrbücher) (Glasenapp 1951, S. 49–52; Glasenapp 1948, S. 63–68)
Die indische Philosophie unterscheidet zwei Stufen der Wirklichkeit: 
  • Erstens die Stufe der absoluten Wirklichkeit, jener transzendenten Realität, die außerhalb von Zeit und Raum existiert und unveränderlich ist.
  • Zweitens die Stufe der konkreten und alltäglichen Wirklichkeit, die alle in der Welt und im eigenen Leben durch das ewige Moralprinzip (Dharma) erfahern.
Die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit bis hin zum absoluten Urgrund der Welt können mittels verschiedener Bewusstseinszustände erfasst werden: Entweder durch empirische Erkenntnis der Vielfalt im Wachzustand oder durch die intuitive Erkenntnis der Einheit in der Meditation. (Glasenapp 1958, S. 365–370; Piano 2004, S. 129 f., 41 ff.)

2.2 Welt 

Alle hinduistischen Religionsformen glauben an einen ewigen und unvergänglichen Kosmos, der periodisch zwischen Aktivität und Ruhe wechselt. Damit setzt jede neue Weltentstehung einen Untergang mit einer längeren Ruhephase voraus. Die meisten hinduistischen Schulen lassen den Kosmos periodisch aus einem universellen Urwesen oder mehreren Ursubstanzen hervorgehen und beim Weltuntergang wieder in dieses zurückkehren bzw. sich in diese auflösen. Laut dieser Vorstellung gibt das Urprinzip zuerst die Materie heraus und geht dann als belebender Geist in sie ein. Diese göttliche Existenz ist ebenfalls dem Prozess von Entstehung und der Zerstörung unterworfen. Die vielen ewigen Einzelseelen, die während der Ruhephase geschlafen haben, werden ihrem Karma entsprechend als Pflanzen, Tiere oder Menschen wiedergeboren. Dieser Prozess ist eine Kette ohne Anfang und Ende.

Darin eingebettet existiert das Konzept eines gesetzmäßigen Fortschritts einschließlich Phasen zunehmenden Verfalls der sittlichen, sozialen und staatlichen Verhältnisse.(Glasenapp (Hrsg) 1958, S. 141–149, 153 f.; Mall 1997, S. 12–15, 17 f., 23–32, 32–36) 

Die mythologische Geographie beschreibt die Welt als ein Ei, das von einer Hülle umgeben ist. In seinem Inneren befindet sich mehrere unterirdische und überirdische Sphären, die der Vorstellung von Himmel und Hölle ähnlich sind. Die Aufgabe der Menschheit besteht darin, ihren Lebensraum zwischen diesen Sphären durch Opfer und soziale Pflichten mit den übrigen Elementen im Gleichgewicht zu halten. Außerhalb des Eies befindet sich das unendliche Universum, welches aus vielen solchen Weltsystemen besteht. (Glasenapp (Hrsg.) 1958, S. 150 f.; Malinar 2009, S. 170–175)

2.3 Zeit 

Die kosmologische Zeitrechnung der indischen Tradition ist in Zyklen eingeteilt, welche durch den Wechsel zwischen Tag und Nacht im Leben des Gottes Brahma bestimmt werden. Ein Weltzeitalter genannt Kalpa, ist ein Tag im Leben Brahmas (des Schöpfers). Am Ende eines Weltzeitalters, also am Ende eines göttlichen Tages, wird die Welt zerstört und gereinigt wieder neu erschaffen. Die endgültige Zerstörung erfolgt erst an Brahmas Lebensende, wo die Welt zu ihrer Urform, der absoluten Existenz, zurückkehrt. Während jedes Kalpa findet ein ständiger Wechsel von vier Zeitaltern statt, die die Qualität der Welt und der Menschen, ihre Moral, Sitten und Gebräuche, aber auch den Lauf der Jahreszeiten bestimmen:

Im ersten Zeitalter sind alle Menschen gläubig und wahrhaftig. Sie brauchten nicht zu arbeiten, alles war auf Wunsch vorhanden. Im zweiten beginnt der moralische Verfall und die Menschen werden von Opportunismus geprägt. Im dritten Zeitalter werden Gerechtigkeit und Frieden durch die Widersprüchlichkeit des menschlichen Verhaltens zerstört. Das vierte Zeitalter ist schließlich das Zeitalter des Streits, der Grausamkeit und der Schwelgerei. (Gunturu 2000, S. 184–189; Piano 2004, S. 131 ff., 136–140; Neuner 1962, S. 55) Aufgrund der zyklischen Weltvorstellung wiederholt sich das alles immer wieder.

Eingebettet in das ewige zyklische Zeitkontinuum ist die diesseitige Welt und Zeit. Nur in ihr kann der Weg der Erlösung durch Meditation, Rituale und sittliches Verhalten beschritten werden. Zur Einteilung und Bestimmung der relativen Zeit dienen die vedische Schriften über Astronomie und Astrologie. (Glasenapp 1922, S. 227–233; Glasenapp 1952, S. 52–57; Gonda 1960, S. 180–187; Mall 1997, S. 36 ff.; Michaels 2006, S. 335–339, 345f.)

2.4 Ethik 

Die Lehre vom Karma ist die Überzeugung von der nachwirkenden Kraft aller Handlungen. Jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke ruft neben seiner sichtbaren Wirkung noch eine positive bzw. negative Konsequenz hervor. Dadurch bestimmen die Handlungen des gegenwärtigen Lebens die zukünftige Existenz, so wie das gegenwärtige Leben von den Konsequenzen der Taten des vorhergehenden Lebens bestimmt ist. Das höchste Ziel besteht daher in der endgültigen Befreiung (Moksha) der Seele aus diesem Kreislauf. Erlösung ist nach indischer Anschauung eine rein individuelle Angelegenheit, bei welcher der einzelne Mensch allmählich zu einer sittlichen Vollkommenheit, absoluten Gemütsruhe und Pflichterfüllung gelangt und sich von den Leidenschaften, Trieben und Bedürfnissen der irdischen Welt befreit. Es gibt drei verschiedene Wege, die zu diesem Zweck beschritten werden können, den Weg der Erkenntnis durch Studium und Wissenschaft, den traditionellen Weg des rituellen Handels und den mystischen und intuitiven Weg der Gottesliebe. Das Ziel ist die Erkenntnis der unsterblichen Seele und damit die Freisetzung ihrer wahren Gestalt in absoluter Freiheit und ewiger Glückseligkeit. (Glasenapp 1938, S. 3–12, 13–25, 32–38, 70 ff.; Becke 1996 S. 45 ff.; Gonda 1960, S. 206–209, 213, 279–283; Mall 1997, S. 39–50; Glasenapp 1948, S. 102–108)

3. Die Rolle der Aufklärung bei der Annäherung an die Vedische Kultur

Während des Europäischen Mittelalters (6. bis 15. Jahrhundert) gab es kaum Kontakt mit indischer Philosophie und Religion, da das Christentum den Anspruch erhob, die absolute Wahrheit zu besitzen. An einer theologischen und philosophischen Auseinandersetzung bestand daher kein Interesse und das antike Wissen über Indien verblasste. (Glasenapp 1958, S. 1–7)

1498 entdeckte Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. Durch Reisende und Missionare erhielt Europa von nun an wieder vermehrt Nachrichten aus dem Osten. Die ersten Kenntnisse über den Hinduismus bezogen sich jedoch nur auf den volkstümlichen Glauben, jene praktische Religionsausübung, die man unmittelbar und ohne Sprachkenntnisse beobachten und beschreiben konnte. Dadurch kam die europäische Geisteswelt erst im ausgehenden 18. und dann vermehrt im 19. Jahrhundert mit den philosophischen Systemen in Kontakt, die hinter der bereits bekannten praktischen Religionsausübung standen. Die ersten diesbezüglichen Veröffentlichungen von Orientforschern galten jedoch nicht der indischen Philosophie. Die übersetzten Texte wurden nur auf philologischer Basis untersucht.

Die europäische Gelehrten waren der Ansicht, es könne außerhalb von Europa keine Philosophie geben. In den zeitgenössischen philosophischen Lexika und Traktaten finden sich Hinweise auf indische Geistesgeschichte daher nur in Fußnoten, Anmerkungen und Einführungskapiteln. Die Meinung, die Philosophie sei etwas Einzigartiges, das nur in der westlichen Kultur betrieben werden könne, hielt sich bis in das 20. Jahrhundert. Der Grund dafür war, dass verschiedene westeuropäische Parameter, die sich aus der griechischen und aufgeklärten Philosophie entwickelt hatten und die als konstitutive Merkmale einer „richtigen“ Philosophie angesehen wurden, auf östliche Systeme nicht angewendet werden konnten. Man behauptete, die indische Philosophie dürfe aus diesem Grund nicht mit dem aufgeklärten oder antiken, sondern allenfalls mit dem christlichen Denken des Mittelalters verglichen werden, mit jener Zeit also, wo die philosophische Spekulation dem Glauben untergeordnet war. (Zimmer 1992, S. 38–44)

War zu Beginn der westliche Einfluss auf den Hinduismus nur sporadisch, begann Europa am Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker auf das Denken der gebildeten Schichten Einfluss zu nehmen: Immer mehr Reisende besuchten das Land, europäische Produkte wurden importiert sowie wissenschaftliche Kenntnisse und technische Errungenschaften nach Indien gebracht. Diese Entwicklung wurde durch die britische Kolonialherrschaft, die Tätigkeit der Missionare und die Arbeit der europäischen Orientalisten und Übersetzer gefördert. (Glasenapp 1922, S. 406–408)

Diese Neuorientierung des geistigen Lebens fand ihren Ausdruck vor allem in der Literatur, welche nun nicht mehr nur in der Gelehrtensprache Sanskrit sondern auch in Englisch und in den volkssprachlichen Dialekten gepflegt wurde und sich zunehmend neuer Themengebiete annahm. Durch Einführung der Druckerpresse und steigende Mobilität entstand eine aktuelle Tagesliteratur, in der sich indische und britische Mentalität zusehends vermischten. (Glasenapp 1922, S. 408–414)

Die englische Kolonialherrschaft benötigte gut ausgebildete, einheimische Beamte und führte daher Englisch als Amtssprache ein und machte die europäischen Wissenschaften zum Bildungsgegenstand an den höheren Schulen. Auch die europäische Philosophie fand durch die englische Bildungsreform ihren Weg an die indischen Hochschulen. Durch die Einführung westlicher Forschungsmethoden begannen die indischen Gelehrten, die Geschichte ihrer eigenen Philosophie nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu bearbeiten, die auch im Westen akzeptiert waren, und sie so der restlichen Welt auf eine neue Art zugänglich zu machen. (Glasenapp 1958, S. 1–7)

Der Einfluss abendländischen Gedankenguts auf Indien und den Hinduismus seit dem 19. Jahrhundert lässt sich in drei Kernbereichen beschreiben.

Im sozialen Bereich entstanden vor allem im städtischen und intellektuellen Umfeld vereinzelte liberale Reformbewegungen, die mit Unterstützung der britischen Regierung versuchten, die zahlreichen religiös legitimierten Missstände, wie Diskriminierung, Unberührbarkeit, Witwenverbrennung oder Kinderheirat zu beseitigen. (Glasenapp. 1922, S. 414–418)

Auf politischer Ebene führten der Nationalismus und die Ideale der Französischen Revolution von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zu einem wachsenden Nationalbewusstsein und einer zunehmenden Ablehnung der Kolonialherrschaft. Deren Unterdrückungsmaßnahmen bewirkten eine politische Annäherung unter den zahlreichen Ethnien des indischen Subkontinents und ein gemeinsames Streben nach Autonomie. (Glasenapp,1922, S. 418–431)

Durch diese politischen Entwicklungen kam es auch zu einer Neubelebung der Religiosität und zum gesamt-hinduistischen Zusammenschluss. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung trotz der Kolonialherrschaft dem traditionellen Glauben treu geblieben war, wurden Zugeständnisse an die moderne Entwicklung gemacht: Universitäten nach westlichem Vorbild wurden akzeptiert, soziale Reformen eingeleitet und Frauen wurde erlaubt, den Veda zu lesen. (Glasenapp 1922, S. 432–435)

Durch die besondere Vielfalt der indischen Philosophie fühlten und fühlen sich bis heute zahlreiche abendländische Denker*innen zu ihr hingezogen: 

In der Zeit der Aufklärung beschäftigte sich erstmals Immanuel Kant (1724–1804) in seinen Vorlesungen über Geographie mit Indien. Jedoch verdankte er seine Kenntnisse zunächst nur Reiseberichten und antiken Quellen. Die enorme Erweiterung der Kenntnisse durch Übersetzungen indischer Literatur durch drei Beamte der Englisch-Ostindischen Kompanie hat er, obwohl noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, nicht mehr rezipiert. (Glasenapp 1960, S. 5–13) 

Viele Philosophen interessiert en sich damals für die indischen Literatur und Kultur und versuchten v. a. Gemeinsamkeiten mit Europa zu entdecken:

Johann Gottfried Herder (1744–1803) bezeichnete Indien in seinem Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ als Wiege der Menschheit und verklärte das Land und seine Kultur obwohl auch er seine Kenntnisse nur aus Lektüre gewonnen hatte.

Der französische Orientalist Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperon (geb. 1731) sowie Josef Görres (1776–1848) und Anselm Rixner (1766–1838) wollten durch Vergleiche von Mystik und Mythologie aus verschiedenen Zeiten und Kulturen beweisen, dass alles religiöse und philosophische Streben nach Erkenntnis aufgrund der Gemeinsamkeiten auf eine einzige Quelle zurückgeführt werden könne.

Friedrich Schlegel (1772–1829) hielt in seinem Werk „Über die Sprache und Weisheit der Inder“ Indien sogar für die Quelle aller Sprachen, aller Gedanken und Gedichte des menschlichen Geistes und meinte, in Indien die Urweisheit der Menschheit zu finden.( Glasenapp, 1960, S. 14–30)

Die folgenden Philosophen weisen bereits in ihren Lehren selbst Parallelen auf, die manche sogar ausdrücklich auf indische Einflüsse zurückführen.

Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) Ableitung der gesamten Welt aus dem Bewusstsein erinnert z. B. an die Lehre des Vedanta, jedoch gibt es bei ihm keine Belege dafür, dass er indisches Gedankengut rezipiert hat.(Glasenapp 1960, S. 33)

Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) hingegen erwähnte in seinen Vorlesungen immer wieder die heiligen Schriften Indiens und hat sich in seinen letzten Lebensjahren nachweislich mit den Upanishaden beschäftigt. Eine Verbindung zwischen seinen Theorien und dem Vedanta liegt daher ebenfalls nahe. Er hält die Upanishaden für die Urweisheit der Menschheit und versucht, Gemeinsamkeiten zwischen der indischen, ägyptischen und griechischen Mythologie herzustellen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) beschäftigte sich mit indischer Geschichte, Staatsordnung, Gesellschaft, Kunst, Poesie und Wissenschaft, Religion und Philosophie. Er stellte die Philosophie in einen weltgeschichtlichen Kontext. Europa sei dabei das Ende dieser Entwicklung von Ost nach West, Asien der Anfang. Kenntnisse, die aus Asien stammen seien daher nur ein Vorspiel für den eigentlichen Mittelpunkt der Weltgeschichte, die Geschichte Europas.

Arthur Schopenhauer (1788 -1860) schließlich wurde nach eigenen Angaben in seiner Philosophie besonders stark von indischen Gedanken beeinflusst, maß Indien und seiner Geisteswelt ebenfalls eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu. Da er selbst nie in Indien gewesen war, stützte er sich auf literarische Quellen und mündliche Zeugnisse von englischen Offizieren, jedoch konnte er neben Reiseberichten auch bereits auf ein wissenschaftliches Schrifttum zurückgreifen. Er hielt Indien für das Vaterland der Menschheit und die Hindus für die Stammeltern der Menschheit und ihre Religion für die Urreligion unseres Geschlechts. Im Einklang mit den damals verbreiteten Theorien versuchte er, auch die ägyptische und griechische Religion und sogar das Christentum aus Indien herzuleiten. Er unterschied eine bedingte Wahrheit und eine für den gewöhnlichen Sterblichen nur teilweise erreichbare höchste Wahrheit. Schließlich glaubte Schopenhauer auch, dass alle Religionen nur ein Weg zu einem einzigen Ziel seien. (Glasenapp 1960, S. 77–90)

4. Unterschiede Europäischer und Vedischer Kultur

Die indische Philosophie hat in Europa wohl besonders wegen ihrer Andersartigkeit viel Interesse erregt. Einerseits wurde versucht, Parallelen zwischen griechischen bzw. modernen und indischen Philosophien herzustellen, um zu zeigen, dass der Mensch aus denselben Bedürfnissen heraus in verschiedenen Ländern und Zeiten zu ähnlichen Anschauungen gelangen konnte. Andererseits bewerteten viele die indische Philosophie von ihrem eigenen, europäischen und „aufgeklärten“ Standpunkt aus und kamen dabei oft zu verachtenden Urteilen. Manche Philosophen aber fanden in den indischen Systemen ihre Anschauungen bereits Grund gelegt, oder ließen sich in ihren eigenen Spekulationen in unterschiedlichem Maße von indischem Gedankengut beeinflussen. Doch in all diesen Fällen wurden nur einzelne Erscheinungen behandelt. Erst im 20. Jahrhundert wurde die indische Philosophie als Ganzes betrachtet und ihre grundsätzlichen Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zu anderen philosophischen Systemen herausgearbeitet. (Glasenapp 1922 S. 311–317)

4.1 Unterschiedliche Sichtweise und Terminologie 

Der indischen Sprach- und Kulturraum benutzt für die Gesamtheit aller weltanschaulichen Systeme ein Wort mit der übertragenen Bedeutung „nachprüfende Wissenschaft“. Es fehlt ein Wort, das dem europäischen Wort „Philosophie“ entspricht, das alle spekulativen Grunderkenntnisse über die Wirklichkeit und das menschliche Wesen zusammenfasst.

Während in Europa die meisten wissenschaftlichen Begriffe aus dem Griechischen oder Lateinischen entlehnt oder völlig neu gebildet werden, und daher wegen ihrer Entfernung zum alltäglichen Sprachgebrauch dem Großteil der Menschen fremd sind, stammt die indische Terminologie aus dem Sanskrit, das eine große Nähe zum allgemeinen Kulturgut auf weist und deshalb allen vertraut ist. (Zimmer 1992, 44–55; Glasenapp 1958, S. 8–12)

4.2 Unterschiedliche metaphysische Grundanschauung 

Im Unterschied zur abendländischen Philosophie steht die indische auf dem Boden einer einheitlichen metaphysisch-ethischen Grundanschauung. Alle hinduistischen Systeme berufen sich auf die grundsätzliche Einheit von natürlicher und moralischer Weltordnung, welche in der Lehre vom Karma, der transzendenten Macht der Tat zum Ausdruck kommt. Die positiven oder negativen Konsequenzen konstituieren daher die materielle Welt. Neben der Vergeltungskausalität berufen sich hinduistische Schulen auf die essenzielle Gleichheit aller Lebewesen, die Anfangs- und Endlosigkeit des Weltprozesses, sowie auf die Existenz einer Vielzahl von Welten.

4.3 Unterschiedlicher Wahrheitsanspruch 

In der europäischen Philosophiegeschichte haben verschiedene Denker auf unterschiedliche Weise versucht, das Wesen der Welt zu ergründen. Dabei entstanden zahlreiche oft auch einander widersprechende Theorien und Modelle, die jedoch alle für sich den Anspruch erhoben, die richtige Erklärung zu sein, und sich gegenseitig zu widerlegen versuchten.

In der indischen Philosophie aber gilt der Grundsatz, dass es keine für alle Menschen und für alle Zeiten gültige religiöse oder philosophische Lehre gibt, sondern nur eine Vielzahl von Anschauungsweisen mit verschiedenen Standpunkten, die jeweils nur einen Ausschnitt der unerkennbaren höchsten Wahrheit vermitteln können. Eine absolute Darstellung der Wahrheit in Form dogmatischer Festlegungen ist daher nicht möglich. Alle philosophischen Systeme sind damit nur provisorische und symbolische Darstellungsversuche der absoluten, transzendenten Wahrheit, die für das menschliche Denkvermögen unbegreiflich bleibt. Diese dynamische Einstellung zum Wahrheitsbegriff ermöglicht es einer Vielzahl philosophischer Systeme und Theorien, gleichwertig nebeneinander zu existieren. Da jede Erkenntnis von zahlreichen subjektiven Faktoren abhängig ist, gibt es auch unterschiedliche Wege zum Heil, die jedoch am Ende immer zur einzigen absoluten Wahrheit zusammenführen werden.(Kölver 2003, S. 29 f.; Glasenapp 1922, S. 311–317)

4.4 Unterschiedliche wissenschaftliche Ausrichtung 

Alle hinduistischen Schulen sind sich trotz unterschiedlicher Auffassungen einig, dass die Mittel des Verstandes und die Macht der Vernunft nicht ausreichen, um die höchste Wahrheit zu erfassen und auszudrücken. Das logische Denken wird durch die möglichen Wirklichkeitserfahrungen weit übertroffen. Die indische Philosophie bedient sich daher auch anderer Methoden als die abendländische Philosophie, welche sich dem Ideal des vorurteilslosen und kritischen Denkens verpflichtet sieht und mit den Kategorien des naturwissenschaftlichen Denkens arbeitet. Die westliche Philosophie definiert sich als exoterisch und leitet ihre universelle Gültigkeit aus den Naturwissenschaften ab. Die indische Philosophie baut auf die Wahrung von Traditionen und die Akzeptanz von Visionen und Weisheiten erleuchteter Lehrer. Intuition, Meditation und metaphysische Erfahrungen sind zulässige Mittel zur Erkenntnis. Die Aufmerksamkeit wird dabei nicht auf die Außenwelt, sondern auf das Innere eines Lebewesens gelenkt. Anstatt das Leben und den Kosmos in einem großen Zusammenhang verstehen zu wollen, wie es im Hinduismus das Ziel der Suche nach der absoluten Wahrheit ist, gilt es im Abendland, zunehmend differenziertere Spezialkenntnisse zu erwerben und konkretere Einzelheiten zu erkennen. (Glasenapp 1958, S. 17 f.; Zimmer 1992, S. 18 f., 22, 25 f., 28 f., 38–44)

4.5 Unterschiede in der Lehrer-Schüler Beziehung 

In Indien beinhaltet jedes Wissensgebiet nicht nur eine spezialisierte Kunstfertigkeit, sondern immer auch eine entsprechende Lebensform. Insbesondere die Philosophie kann nicht durch Bücher, Vorträge oder Diskussionen studiert werden, sondern nur durch während einer Lehrzeit bei einem befugten Meister. Wissen und Techniken müssen dabei durch ständige Übung und mündliche Unterweisung gelernt werden. Daher mussten Anwärter auf dieses Wissen sorgfältig geprüft werden und ihre Eignung und Berechtigung erweisen. Der Guru besitzt in diesem Verhältnis vollkommene Autorität und Kompetenz. In Europa hingegen sind das eigenständige Denken und die Kritikfähigkeit Ziel einer Ausbildung. Wissen und Wissenschaft müssen nach abendländischer Auffassung jedem Menschen zugänglich gemacht werden. Angeborene Eigenschaften, wie Reinheit oder geistige Qualitäten dürfen dabei keine Hindernisse darstellen. (Zimmer 1992, S. 62–78)

4.6 Unterschiede im Geschichtsbild 

In Europa hat sich durch das Christentum ein lineares Geschichtsverständnis von einem einmaligen Entwicklungsprozess entwickelt. Im Hinduismus hingegen ist das Geschichtsbild zyklisch, ein immer wieder ablaufender Vorgang, wodurch Versuche einer chronologischen Ordnung meist unbefriedigend bleiben. Durch diesen Konservatismus bilden in Indien die ältesten Schriften noch heute die maßgeblichen Grundtexte, und die alten Schulen besitzen genauso viel Autorität wie erst später entstandene. In Indien wird, bildlich gesprochen, an einem Bauwerk ständig dazu gebaut aber nichts abgerissen, während in Europa immer wieder völlige Umstrukturierungen durchgeführt wurden. Gemäß seiner pluralistischen Toleranz versucht der Hinduismus, die modernen naturwissenschaftlichen Theorien mit dem überlieferten Gedankengut zu verbinden. (Glasenapp 1922, S. 450 ff.)

4.7 Unterschiede im Sinn und Zweck des Forschens 

„Das Hauptziel indischen Denkens ist, das aufzudecken und ins Bewusstsein zu heben, was [...] von den Lebenskräften behindert und verdeckt worden ist – nicht aber die sichtbare Welt zu erforschen und zu beschreiben.“ (Zimmer 1992, S. 18.)
P hilosophie in Europa war und ist sehr theoretisch-spekulativ und wurde im Allgemeinen betrieben, um Grundlagen für die empirischen Wissenschaften oder eine brauchbare Erkenntnistheorie zu schaffen, oder um Methoden auszuarbeiten, mit denen Naturgeschehen wissenschaftlich erklärt werden konnten. Das Ziel der hinduistischen Philosophie ist hingegen die Erlösung von allem Leid. Erlösung bedeutet, mit Hilfe der P4.8 Wissen als praktische Lebenshilfe hilosophie die Sinnenwelt zu erhellen und über sie hinauszugehen, um die zeitlose Wirklichkeit zu erreichen und zu erfahren. Dies ist das höchste Ziel des menschlichen Forschens, Lehrens und Meditierens. Die Deutung von Natur und Mensch ist dabei nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel. Denn die Kenntnis von irdischen Sachverhalten und Wahrheiten führt nicht zu einer inneren Erkenntnis, weil all diese Dinge vergänglich und begrenzt sind. (Zimmer 1992, S. 51–55)

4.8 Wissen als praktische Lebenshilfe 

Indische Philosophie hat nicht nur die Aufgabe, Erkenntnisse über das Wesen der Wirklichkeit zu ermitteln und zu verkünden, sondern sie verfolgt vor allem praktische Ziele. Denn Philosophie und Leben sollen sich gegenseitig beeinflussen, und dem Wissen und der Erkenntnis muss die Umsetzung im praktischen Leben folgen, ohne die das Verlassen des ewigen Kreislaufs der Wiedergeburt nicht möglich ist. Somit ist das oberste Ziel nicht wie in Europa die Information, sondern die Transformation, die Wandlung der gesamten menschlichen Natur. Denn die Erlösung erreicht man nicht nur durch intellektuelles Verstehen, sondern durch eine Wandlung der Seele und des Herzens.

5. Schlussfolgerung: Vergleich zwischen Europäischer Aufklärung und Vedischer Kultur

Der Versuch, die beiden Philosophien und Weltbilder miteinander zu vergleichen, zeigt, dass es im Hinduismus keine Ereignisse gab, die zu einer für die Europäische Aufklärung typischen Trennung von Religion und Wissenschaft bzw. Gesellschaft geführt haben. Überträgt man die genannten Merkmale der „Aufklärung“ auf die indische Philosophie, so kann behauptet werden, dass es im Hinduismus keine Aufklärung im europäischen Sinne gab. (Zimmer 1992, S. 38–44; Glasenapp 1958, S. 8–22 )

In der vedischen Geisteswelt gibt es keine säkularisierte, rationale Auffassung von Mensch und Welt, denn religiöse Vorstellungen spielen in der Philosophie eine große Rolle. In Europa hingegen wird seit René Descartes versucht, die Natur rein naturwissenschaftlich zu erklären und ohne Offenbarung aus wenigen, klar durchschaubaren Prinzipien herzuleiten.

Die anerkannten Methoden zur Wahrheitsfindung sind jeweils unterschiedlich. Aus diesem Grund wird in der Vedischen Kultur keine einseitig rationale Theoriebildung oder abstrakte Beweisführung betrieben. Es herrscht ein religiöser Traditionalismus, der auf der Autorität erleuchteter Lehrer und ihrer Visionen gründet, was von der Europäischen Aufklärung jedoch abgelehnt wird.

Durch Betonung der Tradition geht es in der Vedischen Wissenschaft auch nicht allein um eine schlüssige Falsifikation oder Bestätigung von Erkenntnissen, sondern gleichzeitig um die Interpretation und Kommentierung des als gültig anerkannten göttlichen Wissens. Es geht um die getreue Weitergabe alter Traditionen, wobei die Kritik dazu dient, deren Wirksamkeit zu erhalten. In Europa hingegen gilt seit dem Zeitalter der Aufklärung die Kritik, die selbstständige Prüfung aller Meinungen, Dogmen und Verhältnisse am Maß der Natur, als zentrale Tätigkeit der Vernunft und als Beweis wahrer Humanität. Nur die Vernunft kann über den Wahrheitsgehalt von Erkenntnissen entscheiden und die vernünftig angelegte Welt durchdringen. Während in der Vedischen Kultur die Möglichkeit der Erleuchtung nicht unwesentlich von Reinheitspraktiken (Yoga, Meditation) und der gesellschaftlichen Tradition (Kastenwesen) abhängt, besitzt laut Aufklärung jeder Mensch prinzipiell den gleichen Anteil an Vernunft, die er dann selbst kultivieren und vergrößern kann und auch muss. (Hotz 2004, S. 71 f.; Walther 2005, 801.)

Während die Aufklärung von einer unendlichen Natur und an einer unendlichen Erweiterbarkeit der menschlichen Kenntnisse ausgeht und den Fortschritt als eine ihrer zentralen Kategorien ansieht, beruht die Vedische Kultur auf einem als vollendet angesehen Systems des Wissens (Veda), vergleichbar mit der Bibel in der christlichen Kultur. Gelehrsamkeit ist somit die Aneignung und Ordnung dieses prinzipiell bekannten, ewigen Wissens. Im Hinduismus gilt der Veda als ewige, absolute Weisheit, die nicht angezweifelt oder verändert werden kann. In Europa begann mit der Aufklärung der Versucht, die Bibel mit Hilfe der Textkritik als geistige Richtschnur zu relativieren, sie nicht mehr als göttliche Offenbarung, sondern als historisches Dokument zu sehen.

In der Gesellschaft strebte die Aufklärung nach Liberalität und setze es sich zum Ziel, durch Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit die vorhandenen sozialen Grenzen zu verringern. Bildung sollte möglichst allen Menschen möglich sein. In der traditionellen Vedischen Kultur ist Bildung und Studium mit der gesellschaftlichen Ordnung verknüpft und nicht allen Menschen in gleichem Maße zugänglich. Wer nach umfassendem Wissen strebt, kann dieses jedoch unabhängig von seiner Kastenzugehörigkeit mit Hilfe eines Lehrers (Guru) erlangen. Doch auch in Europa galten diese Ideale der Gleichheit zu Beginn nur in den oberen Schichten und im kulturellen Bereich und konnten bis heute noch nicht völlig realisiert werden. (Walther 2005, Sp. 801; Walther/Steinle 2005, Sp. 805 ff.)

Manche europäische Wissenschaftler*innen vertreten wegen des philosophischen Charakters und großen Traditionsbewusstseins der Vedischen Kultur daher die Ansicht, die indische Philosophie könne am ehesten mit antiker Naturphilosophie oder der europäischen Philosophie des Mittelalters verglichen werden. (Glasenapp 1958, S. 8-12)

Ganz dem Ideal der Aufklärung entspricht hingegen der Hinduismus in Bezug auf seine Toleranz zu anderen Religionen und Philosophien. Denn „obgleich die Wahrheit, die Strahlung der Wirklichkeit, auf der ganzen Welt ein und dieselbe ist, wird sie mannigfaltig reflektiert, je nach Beschaffenheit der Medien, in denen sie sich spiegelt“ und „die Wahrheit erscheint in verschiedenen Ländern und Zeitaltern verschieden, je nach Art des lebendigen Materials, aus dem ihre Sinnbilder gemeißelt sind“. (Zimmer 1992, S. 17) Und genau diese Haltung der Toleranz und das Bewusstsein, dass es viele unterschiedliche Wege zur Wahrheit gibt, diese „Einheit in der Vielfalt“, wie eine der Selbstbezeichnungen des modernen Hinduismus lautet, scheinen hier angebracht.

Die von der Aufklärung besonders hervorgehobenen, universalen Aspekte der Kultur wie Rationalität, Kritik und geistige Freiheit haben nicht überall denselben Stellenwert wie in Europa. Die Ideale der Europäische Aufklärung können deshalb nicht ohne weiteres auf andere Epochen oder Kulturen übertragen werden. Denn „mögen solche (aufklärerischen) Perspektiven auch interessante interkulturelle Vergleiche eröffnen, so kommen sie als wissenschaftliche Aussagen kaum über den Rand vager Analogien hinaus.“ (Walther 2005, S. 792) Man kann deshalb keinen qualitativen Unterschied zwischen indischer und abendländischer Philosophie herstellen, indem man behauptet, die Erstere sei religiöse und mystische Spekulation, die Letztere hingegen das Ergebnis von objektiver wissenschaftlicher Forschung.

Sieht man hingegen die Philosophie als Versuch, durch denkende Betrachtung der Dinge eine geschlossene Weltsicht und Regeln für die praktische Lebensführung zu gewinnen, so trifft diese weit gefasste Definition des Begriffes in gleicher Weise auf die indische wie auf die abendländische Philosophie zu. Denn obwohl die hinduistische Philosophie nicht in die modernen akademischen Regeln passt und sich anderer Methoden bedient, verfolgt sie dennoch die gleichen Ziele und hat die gleichen Ergebnisse. (Zimmer 1992, S. 38-44; Glasenapp 1958, 8-12)

Gotthold Ephraim Lessing meinte dazu 1778 in „Eine Duplik“ treffend: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ „Nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit“ erweitern sich die Kräfte des Menschen, „worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht.“ Die reine Weisheit sei letztendlich für Gott allein, und wenn es ihn nicht gibt, so könnte man ergänzen, für niemanden zugänglich. (Kopitzsch 2010, S. 19)


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